"Niemand hat die Absicht,
eine Mauer zu errichten"

Ulbrichts "antifaschistischer Schutzwall" in Berlin
und quer durch Deutschland



Die East-Side-Gallery mit Wandmalereien zu politischen Ereignissen und zum Thema Mauer ist eine touristische Attraktion in Berlin, immer wieder bemalt und restaurierungsbedürftig. (Foto: Caspar)

In einer Pressekonferenz am 15. Juni 1961 wurde der damalige SED-Chef und DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht gefragt, ob der Bau einer Mauer bevor steht, ob also West-Berlin von Ost-Berlin abgeriegelt werden soll. Ulbricht wehrte ab und erklärte wider besseren Wissens wörtlich: „Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau…Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“.

Ulbricht log, was das Zeug hielt, denn die Abschottungspläne waren schon ausgearbeitet und die Einsatzbefehle ausgestellt. Die insgeheim vorbereitete und als Sieg des Sozialismus über den Imperialismus gefeierte Aktion war mit der Partei- und Regierungsspitze in Moskau abgestimmt. Ulbrichts Mann fürs Grobe und später sein Nachfolger, Erich Honecker, war mit der Ausführung betraut und unterließ keine Gelegenheit, den Mauerbau als Rettungstat zu verherrlichen.

Als in den frühen Stunden des 13. August 1961, an einem Sonntag, quer durch Berlin und entlang der deutsch-deutschen Grenze der Stacheldraht ausgerollt, Straßen abgesperrt, die Bahnverbindungen unterbrochen wurden, wurde eine neue Geschichtslegende geboren. Die Mauer, im DDR-Jargon jetzt nur noch antifaschistischer Schutzwall genannt, sei gebaut worden, um Westagenten und Provokateuren das Handwerk zu legen, lautete die in vielen Varianten und mit großer Häme vorbetragene ostdeutsche Begründung. Die Sperrmaßnahmen hätten den Frieden in Deutschland, ja in der Welt gerettet. Kein Wort davon, dass in den letzten Wochen und Monaten Tausende DDR-Bewohner in den Westen geflüchtet waren. Diesen Aderlass vor allem aus politischen und wirtschaftlichen Gründen wollten die sowjetischen „Freunde“ nicht mehr dulden, und deshalb unterstützten sie die DDR-Führung, die Angst vor weiterer Destabilisierung hatte, sich aber nicht dazu durchringen konnte, ihren Untertanen mehr Freiheit, politische Mitbestimmung und bessere Lebensverhältnisse zu gewähren.

Dank ausgeklügelter Signal- und Selbstschussanlagen, Sperren und Minenfelder erlaubte die nach und nach zur High-tech-Grenze ausgebaute und von unzähligen schwer bewaffneten Soldaten bewachte Anlage praktisch kein Durchkommen. Obwohl die DDR wirtschaftlich am Ende war, wurden auch in ihrer Schlussphase noch Unsummen zur Aufrüstung des todbringenden Sperrgürtels ausgegeben. Ziel war es, schon im Vorfeld Flüchtlinge abzufangen und so Schüsse zu vermeiden. Denn nichts schadete so sehr dem internationalen Ansehen der DDR als Bilder von Toten und Verwundeten an der Mauer. Wieviele es waren, ist nicht genau bekannt, doch geht die Zahl in die Tausende. Hinzu kommen zahllose Menschen, die wegen versuchter "Republikflucht" in die Zuchthäuser geworfen wurden. Wer Glück hatte, wurde vom Westen gegen hohe Summen frei gekauft.

Als Anfang 1989 Ulbrichts Nachfolger als SED-Chef und Staatsratsvorsitzender Erich Honecker behauptete, die Mauer werde noch in fünfzig oder hundert Jahren stehen, war das einer der Nägel für den Sarg der DDR und provozierte verstärkte die Flucht ihrer Bewohner über Drittländer und zu Ausreiseanträgen. Es sollte nur noch wenige Monate dauern, bis der streng bewachte Beton- und Stacheldrahtriegel für alle überraschend fiel.

Heute hat man Schwierigkeiten, in der Hauptstadt den Verlauf der Mauer noch auszumachen. Gleich nach ihrer Öffnung am 9. November 1989 wurden die Betonsegmente, Wachtürme, Meldevorrichtungen und Schussfelder beseitigt. Das längste Mauerstück ist entlang der Spree im Bezirk Friedrichshain erhalten. Die immer wieder neu bemalte East Side Gallery hat internationale Berühmtheit erlangt. Das Dokumentationszentrum Berliner Mauer in der Bernauer Straße klärt am Beispiel eines dort erhalten gebliebenen Todesstreifens zwischen meterhohen Betonwänden über die schrecklichen Folgen jener Selbstabriegelung vom 13. August 1961.

Helmut Caspar

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