Leben von der Hand in den Mund -
Im deutschen Kaiserreich nahm die Frauenarbeit rasant zu
und die Kinderarbeit langsam ab



In zahlreichen Fabriken wie hier bei der Herstellung von Glühlampen waren fast ausschließlich schlecht bezahlte Frauen tätig. (Repro: Caspar)

Das deutsche Kaiserreich mit seinen Prunk und Protz, seiner Liebe zum Militär und den gewagten Brandreden von Wilhelm II., mit seinem erstaunlichen Aufschwung in der Wirtschaft, Kunst, Kultur und Wissenschaft und der Bildung von Millionenstädten hatte eine dunkle Kehrseite. Ihre Namen waren Proletarisierung der Gesellschaft, Massenarmut und Elend in den Mietskasernenvierteln, Bildungsnotstand in den unteren Schichten und Krankheiten, miserable Bezahlung der Arbeiter und Ausbeutung von Frauen, da und dort auch Kinderarbeit. In den Fabriken, im Handwerk und Dienstleistungsbereich war es selbstverständlich, dass Frauen und Mädchen Geld verdienten und meist weniger als die männlichen Kollegen bei gleicher oder ähnlicher Leistung erhielten. Unter den Landarbeitern gab es einen hohen Frauenanteil, und hier waren besonders viele Kinder auf dem Feld und im Stall beschäftigt.

Frauenarbeit und zum Teil auch Kinderarbeit geschahen aus purer Not und Notwendigkeit, denn der Lohn, den ein Familienvater aus der Fabrik oder von seiner Tätigkeit auf dem Land nach Hause brachte, reichte nicht aus, die meist vielköpfigen Familien über Wasser zu halten. Da auch das nicht viel war, was die Mütter verdienten, wurden ältere Kinder als Handlanger, Austräger oder Boten eingesetzt, was natürlich ihre Entwicklung und auch ihre Aufmerksamkeit im Unterricht beeinträchtigte, wenn sie denn in die Schule gingen.

Zwischen 1882 und 1907 verdreifachte sich nach damaligen Statistiken die Zahl der Fabrikarbeiterinnen vornehmlich in der Bekleidungs-, Nahrungs- und Genussmittelindustrie von einer halben auf eineinhalb Millionen. Hinzu kam ein Heer von Haushaltshilfen, Dienstbotinnen, Telefonistinnen und Bürokräften sowie von weiblichen Beschäftigten im Sozial- und Krankenhauswesen. Nicht zu beziffern ist die Zahl der Frauen jeden Alters, die einer in der Regel schlecht bezahlten Heimarbeit nachgingen.

Der massenhafte Einsatz von ungelernten Frauen in Fabriken war möglich, weil dort neuartige Maschinen zur Verfügung standen, die leicht bedient werden konnten. Der Einsatz von technischen Hilfsmitteln erschloss den Fabrikanten ein schier unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften, und Investitionen in den Maschinenpark amortisierten sich schnell. Ein Gutes hatte die Zunahme der Maschinenarbeit. Mit ihr nahm die Beschäftigung von Kindern ab, weil der Umgang mit technischen Geräten eine gewisse Erfahrung und Aufmerksamkeit verlangte, die Jungen und Mädchen nicht aufbringen konnten. Außerdem hätten Unfälle den Produktionsablauf gestört und auch die Öffentlichkeit auf den Plan gerufen, und solche Negativreklame im Zusammenhang mit verletzten oder getöteten Kindern wollten sich die Fabrikanten ersparen.

Dass sich Mediziner und Politiker für ein Verbot der Kinderarbeit aussprachen hatte noch einen anderen Grund. Untersuchungen hatten ergeben, dass frühzeitig zur Arbeit herangezogene, zudem noch schlecht ernährte Jungen eines Tages schlechte Rekruten abgeben werden. Im Deutschen Kaiserreich, das so sehr auf eine intakte Armee achtete und einen großen Teil des Staatshaushalts für das Militär und die Rüstung ausgab, war das ein gewichtiges Argument.

So kam es, dass nach und nach die Altersgrenze für Kinderarbeit von zehn auf 13 Jahre heraufgesetzt sowie eine Meldepflicht für jugendliche Arbeiter eingeführt wurden. Es kam auch zu Kontrollen durch die Polizei und die Gewerbeaufsicht, aber wie wir aus zeitgenössischen Berichten wissen, wurden diese Überprüfungen durch ein ausgeklügeltes Vorwarnsystem vielfach unterlaufen. Da das Auge des Gesetzes aber nicht überall hinschauen konnte, gab es Verstöße gegen die Gesetze gegen Kinderarbeit, die jedoch in der Land- und Forstwirtschaft nicht galten, wo um 1904 rund 1,77 Millionen Kinder unter 14 Jahren beschäftigt waren. Nach dem Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1888 wurden der Kinderarbeitsschutz ausgeweitet und die Sanktionen bei Missachtung verschärft. Damit stand das Deutsche Reich, was diesen Aspekt der Sozialpolitik betraf, mit an der Spitze in Europa.

Im kaiserlichen Deutschland war mehr als ein Viertel der Frauen berufstätig, fast die Hälfte von ihnen war verheiratet und hatte Kinder. Während die Mütter zum Teil weite Wege zu Fuß bis zu ihrer Stelle zurücklegen mussten, weil einmal das Verkehrsnetz noch unvollkommen war und außerdem Fahrgeld nicht übrig war, und einen langen Arbeitstag vor sich hatten, blieben ihre Kinder häufig sich selbst überlassen. Erst langsam entwickelten sich städtische Kinderbewahranstalten, wie man Kindergärten damals nannte. Weitblickende Unternehmer indes richteten eigene Betriebskindergärten ein, um ihren Mitarbeiterinnen die Beaufsichtigung ihres Nachwuchses abzunehmen und zum anderen um sie für das Unternehmen zu motivieren und sie an dieses zu binden.

Viele Frauen wurden durch die Doppelbelastung Arbeit und Familie regelrecht aufgefressen. Dass sich die Ehemänner und Väter an der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder sowie an der Hausarbeit und dem Einkaufen beteiligt hätten, stand vor hundert Jahren noch außerhalb der Realität. Männer kümmerten sich ums Geldverdienen, Frauen standen hinterm Herd oder mussten, wenn das Einkommen nicht ausreichte, Kindererziehung, Küche und meist gering bezahlte Arbeit irgendwie miteinander verbinden. Das Nachsehen hatten häufig die Kinder, um die sich bestenfalls ältere Geschwister, Nachbarn oder Verwandte kümmerten oder die unbeaufsichtigt irgendwie die Zeit totschlugen.

Viele Menschen lebten von der Hand in den Mund, konnten sich keine Bücher oder Zeitungen leisten, weder ins Theater gehen noch eine Ferienfahrt unternehmen. Der Zeichner des Berliner Proletariats Heinrich Zille hat drastische Bilder vom elenden Alltag des, wie wir heute sagen würden, Prekariats geschaffen. Man könnte meinen, die Schilderungen seien übertrieben, doch sagt ein Blick in zeitgenössische Berichte und Statistiken, dass der Künstler nur die Spitze eines Eisbergs wiedergegeben hat, denn die Wirklichkeit sah noch viel schlimmer aus. Privilegiert waren diejenigen, die einen Schrebergarten oder in kleinstädtischen Bereichen eine kleine Landwirtschaft besaßen, deren Erträge ein wenig zum Lebensunterhalt beitrugen. Als im Ersten Weltkrieg Millionen Männer an den Fronten regelrecht verheizt wurden, waren es im Wesentlichen die Frauen und nach Lockerung der Kinderschutzgesetze auch wieder Kinder und Jugendliche, die das Wirtschaftsleben einschließlich der Rüstungsindustrie aufrechterhielten.

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