Senilität, Charakterlosigkeit und Eiferertum –
Die zweite Etage des Zentralkomitees der SED am Werderschen Markt in Berlin
war die eigentliche Machtzentrale



Vor 20 Jahren war offenbar, dass die Staatspartei abgewirtschaftet und keine Zukunft mehr hatte. Im „Wendeherbst“ 1989 gaben viele Menschen ihrer Enttäuschung über die SED und ihre Machenschaften auf Plakaten und in Sprechchören Ausdruck.



Zentrum der Macht war das Zentralkomitee, das in einem früheren Bankgebäude aus der Nazizeit untergebracht war (im Hintergrund). Heute ist der um einen Neubau erweiterte Komplex (vorn) Sitz des Auswärtigen Amtes. Foto/Repro: Caspar

Es ist im Dezember 20 Jahre her, dass das riesige SED-Emblem von der Fassade des Zentralkomitees am Werderschen Markt im Zentrum Berlins entfernt wurde. Der historische Akt fand große Aufmerksamkeit. Viele Beobachter empfanden Genugtuung, manche aber waren nicht amüsiert, denn sie erlebten quasi über Nacht einen Karriereknick beziehungsweise einen Absturz sondergleichen. Dass es kritische Gedanken auch in den Führungsgremien der DDR, konkret in der zweiten, als Hochsicherheitstrakt ausgebauten Etage des Zentralkomitees am Werderschen Markt in Ostberlin, gab, wissen wir aus Dokumenten und Erinnerungen, die nach dem Ende der DDR veröffentlicht wurden und ein erschreckendes Bild von der Ignoranz von Erich Honecker und den Betonköpfen um ihn herum bieten. Der Parteichef und seine Vertrauten hielten sich für unfehlbar, höhere Schulen und Weiterbildung seien in ihren Augen abwegig und überflüssig gewesen, schreibt Manfred Uschner, ein Mitarbeiter des für Außenpolitik zuständigen Politbüromitglieds Hermann Axen, in seinem Buch „Die zweite Etage. Funktionsweise eines Machtapparates“ (Berlin 1993) über die Funktionsweise des SED-Machtapparats. „Sie betrachteten sich als den eigentlichen Souverän; sie waren Gesetzgeber und Justiz zugleich, sie waren gegen jede Rechtsprechung der staatlichen Organe immun. Sie fühlten sich nur dem Politbüro und dabei dessen führendem Mann oder dessen mächtigster Gruppierung gegenüber verpflichtet“.

Wer gegen die von Honecker ausgegebenen „Linie“ aufmuckte, berichtet Uschner weiter, und das waren bisweilen Genossen aus dem engeren Führungszirkel, der flog. Für solche Zwecke gab es Mechanismen wie den Umtausch der Parteibücher. Die Aktion war mit politisch-ideologischen Gesprächen verbunden, und wer sich dabei als Wackelkandidat erwies, wer unpassende Fragen stellte und unerwünschte Antworten gab, war seine Mitgliedschaft und damit auch seinen Posten los. Etwa 20 000 Partei- und Staatsfunktionären auf allen Ebenen soll es laut Uschner zu Beginn des „Wendejahrs“ 1989 so ergangen sein, insgesamt soll die SED von Januar bis November 1989 rund 66 000 Mitglieder durch Ausschluss, Streichung oder Austritt verloren haben. Viele mit Ausschluss oder Parteistrafen belegte Genossen hatten nur eines getan, sich nämlich für die Politik des „großen Bruders“, also für Gorbatschow und seine Perestroika, auszusprechen.

Zum „System Honecker“ gehörte, dass sich der Partei- und Staatschef nur mit Jasagern und Schönfärbern umgab und alles vom Tisch wischte, was nicht in seinen Kram passte. So wurden von hohen Wirtschaftsfunktionären ausgearbeitete Geheimpapiere, die den bevorstehenden Staatsbankrott dokumentierten und die Überschuldung des Landes nachwiesen, ignoriert und die Verfasser als „Parteifeinde“ kritisiert, oft auch degradiert und auf untergeordnete Posten versetzt. Solche Repressalien waren an der Tagesordnung; man konnte von einer Stunde zur anderen ins Nichts fallen und damit auch alle Privilegien verlieren.

Für den ZK-Mitarbeiter Manfred Uschner, der das Klima von Angst und Verunsicherung im „Großen Haus“ schmerzlich am eigenen Leib erfuhr und zu Beginn des Jahres 1989 Opfer rigoroser Parteireinigung wurde, war die reaktionär-konservative Haltung der Politbüromehrheit und eines großen Teils des Parteiapparats am Herbst 1989, also am Untergang erst der Staatspartei und dann der DDR, schuld. Diese Gruppen „verhinderten ein Fortschreiten, ohne das Fortschritt nicht möglich ist. Sie tragen Verantwortung dafür, dass feige-opportunistische Kräfte unbequem-kreativen stets vorgezogen wurden, dass durch die Praxis der Säuberungen aus der Fülle hochgebildeter und kompetenter Parteifunktionäre niemand in eine Position gelangte, von der aus er das Steuer hätte herumreißen können", bemerkte der ehemalige ZK-Mitarbeiter und betonte aus eigener trauriger Anschauung, an Honeckers Hof hätten Senilität, Charakterlosigkeit, Dummheit und Eiferertum Einzug gehalten.

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