"Genosse WU" wurde zur Unperson - Am 3. Mai 1971 schickte Erich Honecker seinen Ziehvater Walter Ulbricht in die Wüste




Nach sowjetischem Vorbild entwickelte der SED-Chef Walter Ulbricht einen penetranten Kult um seine Person. Plakat aus dem Jahr 1952



Ulbricht gab sich als der "bessere" Kommunist aus. Doch als er nicht mehr gebraucht wurde, ließen ihn seine Moskauer Freunde fallen. Die Nachfolge trat Erich Honecker an (rechts). Repros: Caspar

Bereits in der Antike war es Brauch, einen gestürzten Herrscher der "Damnatio memoriae", der Auslöschung seines Andenkens, zu überantworten. Wer weiter von dem Geächteten sprach, bekam Schwierigkeiten mit den neuen Herren, konnte als Staatsfeind vor Gericht gestellt oder ermordet werden. Nicht ganz so schlimm war es in der DDR, als der SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht von seinem "Ziehsohn" Erich Honecker in die Wüste geschickt wurde. Am 3. Mai 1971 trat "Genosse WU", wie man Ulbricht hinter vorgehaltener Hand nannte, angeblich aus Gesundheitsgründen von seinem Parteiamt zurück, und Honecker ließ sich zum neuen SED-Chef wählen. Ulbricht behielt das repräsentative Amt des DDR-Staatsratsvorsitzenden, doch zu sagen hatte er nichts mehr. Als er am 1. August 1973 während der X. Weltfestspiele in Ostberlin starb, wurde das Spektakel nach einer Schrecksekunde fortgesetzt, als sei nichts passiert. Schnell senkte man seine Urne in eine Gruft auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde. Walter Ulbricht war von nun an eine Unperson. Jetzt strahlte Erich Honecker am DDR-Himmel.

Wie erst nach dem Sturz des SED-Regimes bekannt wurde, machte es Walter Ulbricht seinen sowjetischen Genossen nicht leicht. Zwar hob er bei jeder sich bietenden Gelegenheit die deutsch-sowjetische Freundschaft und den engen Bruderbund mit dem Lande Lenins, wie man immer sagte, in den Himmel; doch jenseits solcher Bekundungen kochte er ein eigenes Süppchen und machte sich in Moskau unbeliebt. Dass er in der Deutschlandpolitik eigene Wege ging und von Konföderation mit der Bundesrepublik sprach, wurde ihm zum Verhängnis. Ebenso der Kult, den er um seine Person entwickelte. Denn Ulbricht ließ sich als großer Arbeiterführer und Freund der Jugend, als Förderer von Kultur und Sport feiern. Er umgab sich mit der Aura eines bedeutenden Historikers und hatte auch nichts dagegen, dass eifrige Speichellecker ihn als direkten Vollstrecker der Ideen von Marx, Engels und Lenin feierten.

So war es Anfang der 1970-er Jahre nur noch eine Frage der Zeit, dass der Sachse mit der Piepsstimme abgelöst wurde. Ulbrichts Sturz war von Honecker von langer Hand vorbereitet und mit den sowjetischen Freunden abgesprochen worden. Diese waren schon seit längerer Zeit mit der Selbstherrlichkeit und Anmaßung des mächtigsten Mannes in der DDR unzufrieden. Intern empörte sich der sowjetische Parteichef Leonid Breshnew darüber, dass sich Ulbricht wie ein Lehrmeister in Sachen Wirtschaftspolitik aufspielte und sich für einen besseren Kommunisten ausgab. Das alles wurde als destabilisierend angesehen und erforderte nach Ulbrichts Ablösung die Installierung eines neuen, der harten Moskauer Linie treu ergebenen Mannes - Erich Honeckers.

Durch ihre rigorose Politik, ohne Rücksichten auf die Lage und Befindlichkeiten der eigenen Untertanen in der DDR den Sozialismus so schnell wie möglich aufzubauen, hatte die SED- und Staatsführung den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 provoziert. Nur mit massiver sowjetischer Hilfe konnte er niedergeschlagen werden, doch die Furcht vor einer neuen Erhebung blieb. Um die selbst verschuldete Fluchtbewegung aus der DDR zu stoppen, ließ Ulbricht am 13. August 1961 die Berliner Mauer und die innerdeutsche Grenze errichten. Der Befehl dazu kam aus Moskau, wo man sich mitten im Kalten Krieg um den Bestand der DDR als Außenposten an der Grenze zum imperialistischen Westen, wie es immer hieß, und außerdem um einen exzellenten Lieferanten hochwertiger Industriegüter sorgte.

Walter Ulbricht hatte viele Spitznamen, einer war Spitzbart nach seiner damals ungewöhnlichen Gesichtsbehaarung, ein anderer Genosse Niemand, weil er im Sommer 1961, vor nunmehr 50 Jahren, behauptet hatte, "niemand" habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Dabei wusste er am besten Bescheid über die geplante Errichtung des "antifaschistischen Schutzwalls". Mit Zustimmung und auf Betreiben der Sowjetregierung wurde am 13. August 1961 die massenhafte Fluchtbewegung aus der DDR unterbrochen. Obwohl es nach außen so aussah, als ob sich die Lage nun stabilisieren würde, brodelte es im Inneren, und es gab viele Gründe zur Unzufriedenheit. Sie reichten von Wahlfälschungen und der Verweigerung der Reisefreiheit bis zu gravierenden Mängeln bei der Versorgung vor allem in der DDR-Provinz mit Lebensmitteln, Textilien und Wohnungen, vom Kampf gegen die Kirche bis zur Militarisierung der Gesellschaft. Um Kritiker auszuschalten, wurde unter Ulbricht der von Stasi-Minister Erich Mielke geführte Geheimdienst massiv ausgebaut. Im Falle von inneren Unruhen sollten auch die Nationale Volksarmee und die von der SED angeleiteten Kampfgruppen marschieren, und es waren für Bürgerrechtler Internierungslager, die so genannten Isolierungsobjekte, vorbereitet.

Nach dem altrömischen Prinzip "Brot und Spiele" haben sich Ulbricht und Honecker nach Kräften bemüht, ihren Untertanen das Leben im Arbeiter-und-Bauern-Staat schmackhaft zu machen. Was wurde nicht alles bemüht, um die Stimmung aufzuheitern - Weltfestspiele, Jugendspartakiaden, Pfingsttreffen, Stadtjubiläen und andere Feste, aber auch DDR-Geburtstage und SED-Parteitage. Sie alle waren Ziel- und Ausgangspunkt von Aufmärschen und Wettbewerbsverpflichtungen. Ebenso mussten Wahlen herhalten, um der eigenen Bevölkerung und dem Ausland so etwas wie "Einheit von Volk und Partei" vorzuspiegeln. Dabei wusste jeder, dass die Ergebnisse frisiert, also gefälscht waren.

Der am 30. Juni 1893 in Leipzig geborene Ulbricht war von Beruf Tischler, trat 1912 in die SPD ein und ging 1919 zur neu gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands über. Zwischen Moskau, wo er für die Kommunistische Internationale tätig war, Leipzig und Berlin pendelnd, warb er als sächsischer Landtagsabgeordneter der KPD (1926-1929), Reichstagsabgeordneter (1929-1933) sowie als Mitglied der Parteiführung für die Vision vom Sowjetdeutschland. Die Errichtung der NS-Diktatur am 30. Januar 1933 zwang Ulbricht ins Exil zunächst nach Frankreich. Während des Spanischen Bürgerkriegs von 1936 bis 1938 stand er als Politkommissar auf der Seite der Republikaner. Nach dem Sieg der Franco-Diktatur ging er nach Moskau, wo er im Unterschied zu manch anderen Emigranten die Stalinschen Säuberungen ohne Schaden überstand.

Walter Ulbricht, der treue Schüler des sowjetischen Diktators Stalin, war 1943 Mitbegründer des Nationalkomitees Freies Deutschland, das versuchte, Soldaten der Wehrmacht zum Übertritt auf die sowjetische Seite zu bewegen und Kriegsgefangene für den Aufbau eines neuen, sozialistischen Deutschlands zu rekrutieren. Im April 1945 kehrte der KPD-Funktionär an der Spitze der "Gruppe Ulbricht" mit der Roten Armee nach Deutschland, in die Sowjetische Besatzungszone zurück. Mit Hilfe der Sowjets besetzten er und seine Genossen dort alle wichtigen Schaltstellen in der Verwaltung, Wirtschaft und Kultur mit den eigenen Leuten, um so schnell und konsequent wie möglich die Ostzone in einen, wie es dann immer hieß, Arbeiter-und-Bauern-Staat umzuwandeln.

Walter Ulbricht war führend an der Zwangsvereinigung von KPD und SPD am 21./22. April 1946 beteiligt. In der am 7. Oktober 1949 gegründeten DDR zog er bis 1960 als stellvertretender Ministerpräsident die Fäden. In der SED begnügte er sich zunächst mit dem Posten eines stellvertretenden Parteivorsitzenden, wurde aber 1950 Parteichef und damit der mächtigste Mann in der DDR. Er war der direkte Ansprechpartner der Sowjets, ohne deren Zustimmung keine Entscheidung von einiger Relevanz getroffen werden konnte. Nach dem Tod des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck am 7. September 1960 ließ sich Ulbricht in das neu geschaffene Amt des Staatsratsvorsitzenden wählen.

Den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 überstanden Ulbricht und seine Clique mit sowjetischer Unterstützung einigermaßen unbeschadet. Doch zeigte die Erhebung, auf welch wackligen Beinen die SED-Herrschaft stand. Eine schlüssige Antwort auf die Frage des Umgangs mit dem blutigen Erbe des am 5. März 1953 verstorbenen Stalin gab es nicht. Indem nach sowjetischem Vorbild angebliche Staatsfeinde, Parteischädlinge, Saboteure und Diversanten als Schuldige für innere Schwierigkeiten verfolgt und ins Gefängnis geworfen wurden, versuchte die SED-Führung, Kritiker in den eigenen Reihen einzuschüchtern. Zum Aufstand wie in Polen und Ungarn kam es 1956 und danach in der DDR nicht, doch lebte die Partei- und Staatsführung all die Jahre in einem permanenten Kriegszustand mit dem eigenen Volk.

Nach Ulbrichts Sturz vor nunmehr 40 Jahren verschwand die von ihm bisher propagierte Vision von der sozialistischen Menschengemeinschaft aus dem Politvokabular. Der stark an die Volksgemeinschaft der Nazis erinnernde Begriff wurde 1971 auf dem VIII. Parteitag der SED als unbrauchbar verdammt. Der neue Erste Sekretär beziehungsweise ab 1976 Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, Erich Honecker, verkündete statt dessen die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik und die Abgrenzung der DDR von ihrem Hauptfeind, der imperialistischen BRD, wie die Bundesrepublik Deutschland immer genannt wurde. Mit Erfolg betrieb der neue starke Mann in der DDR die internationale Anerkennung seines Landes als souveräner deutscher Staat. Es dauerte dann noch knapp 20 Jahre, bis auch Erich Honecker und seine Gefolgsleute nach der friedlichen Revolution 1989 im Orkus der Geschichte verschwanden.

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