Bereits in der Antike war es Brauch, einen gestürzten Herrscher der
"Damnatio memoriae", der Auslöschung seines Andenkens, zu überantworten. Wer
weiter von dem Geächteten sprach, bekam Schwierigkeiten mit den neuen
Herren, konnte als Staatsfeind vor Gericht gestellt oder ermordet werden.
Nicht ganz so schlimm war es in der DDR, als der SED-Generalsekretär und
Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht von seinem "Ziehsohn" Erich Honecker
in die Wüste geschickt wurde. Am 3. Mai 1971 trat "Genosse WU", wie man
Ulbricht hinter vorgehaltener Hand nannte, angeblich aus Gesundheitsgründen
von seinem Parteiamt zurück, und Honecker ließ sich zum neuen SED-Chef
wählen. Ulbricht behielt das repräsentative Amt des
DDR-Staatsratsvorsitzenden, doch zu sagen hatte er nichts mehr. Als er am 1.
August 1973 während der X. Weltfestspiele in Ostberlin starb, wurde das
Spektakel nach einer Schrecksekunde fortgesetzt, als sei nichts passiert.
Schnell senkte man seine Urne in eine Gruft auf dem Zentralfriedhof
Friedrichsfelde. Walter Ulbricht war von nun an eine Unperson. Jetzt
strahlte Erich Honecker am DDR-Himmel.
Wie erst nach dem Sturz des SED-Regimes bekannt wurde, machte es Walter
Ulbricht seinen sowjetischen Genossen nicht leicht. Zwar hob er bei jeder
sich bietenden Gelegenheit die deutsch-sowjetische Freundschaft und den
engen Bruderbund mit dem Lande Lenins, wie man immer sagte, in den Himmel;
doch jenseits solcher Bekundungen kochte er ein eigenes Süppchen und machte
sich in Moskau unbeliebt. Dass er in der Deutschlandpolitik eigene Wege ging
und von Konföderation mit der Bundesrepublik sprach, wurde ihm zum
Verhängnis. Ebenso der Kult, den er um seine Person entwickelte. Denn
Ulbricht ließ sich als großer Arbeiterführer und Freund der Jugend, als
Förderer von Kultur und Sport feiern. Er umgab sich mit der Aura eines
bedeutenden Historikers und hatte auch nichts dagegen, dass eifrige
Speichellecker ihn als direkten Vollstrecker der Ideen von Marx, Engels und
Lenin feierten.
So war es Anfang der 1970-er Jahre nur noch eine Frage der Zeit, dass der
Sachse mit der Piepsstimme abgelöst wurde. Ulbrichts Sturz war von Honecker
von langer Hand vorbereitet und mit den sowjetischen Freunden abgesprochen
worden. Diese waren schon seit längerer Zeit mit der Selbstherrlichkeit und
Anmaßung des mächtigsten Mannes in der DDR unzufrieden. Intern empörte sich
der sowjetische Parteichef Leonid Breshnew darüber, dass sich Ulbricht wie
ein Lehrmeister in Sachen Wirtschaftspolitik aufspielte und sich für einen
besseren Kommunisten ausgab. Das alles wurde als destabilisierend angesehen
und erforderte nach Ulbrichts Ablösung die Installierung eines neuen, der
harten Moskauer Linie treu ergebenen Mannes - Erich Honeckers.
Durch ihre rigorose Politik, ohne Rücksichten auf die Lage und
Befindlichkeiten der eigenen Untertanen in der DDR den Sozialismus so
schnell wie möglich aufzubauen, hatte die SED- und Staatsführung den
Volksaufstand vom 17. Juni 1953 provoziert. Nur mit massiver sowjetischer
Hilfe konnte er niedergeschlagen werden, doch die Furcht vor einer neuen
Erhebung blieb. Um die selbst verschuldete Fluchtbewegung aus der DDR zu
stoppen, ließ Ulbricht am 13. August 1961 die Berliner Mauer und die
innerdeutsche Grenze errichten. Der Befehl dazu kam aus Moskau, wo man sich
mitten im Kalten Krieg um den Bestand der DDR als Außenposten an der Grenze
zum imperialistischen Westen, wie es immer hieß, und außerdem um einen
exzellenten Lieferanten hochwertiger Industriegüter sorgte.
Walter Ulbricht hatte viele Spitznamen, einer war Spitzbart nach seiner
damals ungewöhnlichen Gesichtsbehaarung, ein anderer Genosse Niemand, weil
er im Sommer 1961, vor nunmehr 50 Jahren, behauptet hatte, "niemand" habe
die Absicht, eine Mauer zu errichten. Dabei wusste er am besten Bescheid
über die geplante Errichtung des "antifaschistischen Schutzwalls". Mit
Zustimmung und auf Betreiben der Sowjetregierung wurde am 13. August 1961
die massenhafte Fluchtbewegung aus der DDR unterbrochen. Obwohl es nach
außen so aussah, als ob sich die Lage nun stabilisieren würde, brodelte es
im Inneren, und es gab viele Gründe zur Unzufriedenheit. Sie reichten von
Wahlfälschungen und der Verweigerung der Reisefreiheit bis zu gravierenden
Mängeln bei der Versorgung vor allem in der DDR-Provinz mit Lebensmitteln,
Textilien und Wohnungen, vom Kampf gegen die Kirche bis zur Militarisierung
der Gesellschaft. Um Kritiker auszuschalten, wurde unter Ulbricht der von
Stasi-Minister Erich Mielke geführte Geheimdienst massiv ausgebaut. Im Falle
von inneren Unruhen sollten auch die Nationale Volksarmee und die von der
SED angeleiteten Kampfgruppen marschieren, und es waren für Bürgerrechtler
Internierungslager, die so genannten Isolierungsobjekte, vorbereitet.
Nach dem altrömischen Prinzip "Brot und Spiele" haben sich Ulbricht und
Honecker nach Kräften bemüht, ihren Untertanen das Leben im
Arbeiter-und-Bauern-Staat schmackhaft zu machen. Was wurde nicht alles
bemüht, um die Stimmung aufzuheitern - Weltfestspiele, Jugendspartakiaden,
Pfingsttreffen, Stadtjubiläen und andere Feste, aber auch DDR-Geburtstage
und SED-Parteitage. Sie alle waren Ziel- und Ausgangspunkt von Aufmärschen
und Wettbewerbsverpflichtungen. Ebenso mussten Wahlen herhalten, um der
eigenen Bevölkerung und dem Ausland so etwas wie "Einheit von Volk und
Partei" vorzuspiegeln. Dabei wusste jeder, dass die Ergebnisse frisiert,
also gefälscht waren.
Der am 30. Juni 1893 in Leipzig geborene Ulbricht war von Beruf Tischler,
trat 1912 in die SPD ein und ging 1919 zur neu gegründeten Kommunistischen
Partei Deutschlands über. Zwischen Moskau, wo er für die Kommunistische
Internationale tätig war, Leipzig und Berlin pendelnd, warb er als
sächsischer Landtagsabgeordneter der KPD (1926-1929), Reichstagsabgeordneter
(1929-1933) sowie als Mitglied der Parteiführung für die Vision vom
Sowjetdeutschland. Die Errichtung der NS-Diktatur am 30. Januar 1933 zwang
Ulbricht ins Exil zunächst nach Frankreich. Während des Spanischen
Bürgerkriegs von 1936 bis 1938 stand er als Politkommissar auf der Seite der
Republikaner. Nach dem Sieg der Franco-Diktatur ging er nach Moskau, wo er
im Unterschied zu manch anderen Emigranten die Stalinschen Säuberungen ohne
Schaden überstand.
Walter Ulbricht, der treue Schüler des sowjetischen Diktators Stalin, war
1943 Mitbegründer des Nationalkomitees Freies Deutschland, das versuchte,
Soldaten der Wehrmacht zum Übertritt auf die sowjetische Seite zu bewegen
und Kriegsgefangene für den Aufbau eines neuen, sozialistischen Deutschlands
zu rekrutieren. Im April 1945 kehrte der KPD-Funktionär an der Spitze der
"Gruppe Ulbricht" mit der Roten Armee nach Deutschland, in die Sowjetische
Besatzungszone zurück. Mit Hilfe der Sowjets besetzten er und seine Genossen
dort alle wichtigen Schaltstellen in der Verwaltung, Wirtschaft und Kultur
mit den eigenen Leuten, um so schnell und konsequent wie möglich die Ostzone
in einen, wie es dann immer hieß, Arbeiter-und-Bauern-Staat umzuwandeln.
Walter Ulbricht war führend an der Zwangsvereinigung von KPD und SPD am
21./22. April 1946 beteiligt. In der am 7. Oktober 1949 gegründeten DDR zog
er bis 1960 als stellvertretender Ministerpräsident die Fäden. In der SED
begnügte er sich zunächst mit dem Posten eines stellvertretenden
Parteivorsitzenden, wurde aber 1950 Parteichef und damit der mächtigste Mann
in der DDR. Er war der direkte Ansprechpartner der Sowjets, ohne deren
Zustimmung keine Entscheidung von einiger Relevanz getroffen werden konnte.
Nach dem Tod des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck am 7. September 1960 ließ
sich Ulbricht in das neu geschaffene Amt des Staatsratsvorsitzenden wählen.
Den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 überstanden Ulbricht und seine Clique
mit sowjetischer Unterstützung einigermaßen unbeschadet. Doch zeigte die
Erhebung, auf welch wackligen Beinen die SED-Herrschaft stand. Eine
schlüssige Antwort auf die Frage des Umgangs mit dem blutigen Erbe des am 5.
März 1953 verstorbenen Stalin gab es nicht. Indem nach sowjetischem Vorbild
angebliche Staatsfeinde, Parteischädlinge, Saboteure und Diversanten als
Schuldige für innere Schwierigkeiten verfolgt und ins Gefängnis geworfen
wurden, versuchte die SED-Führung, Kritiker in den eigenen Reihen
einzuschüchtern. Zum Aufstand wie in Polen und Ungarn kam es 1956 und danach
in der DDR nicht, doch lebte die Partei- und Staatsführung all die Jahre in
einem permanenten Kriegszustand mit dem eigenen Volk.
Nach Ulbrichts Sturz vor nunmehr 40 Jahren verschwand die von ihm bisher
propagierte Vision von der sozialistischen Menschengemeinschaft aus dem
Politvokabular. Der stark an die Volksgemeinschaft der Nazis erinnernde
Begriff wurde 1971 auf dem VIII. Parteitag der SED als unbrauchbar verdammt.
Der neue Erste Sekretär beziehungsweise ab 1976 Generalsekretär des
Zentralkomitees der SED, Erich Honecker, verkündete statt dessen die Einheit
von Wirtschafts- und Sozialpolitik und die Abgrenzung der DDR von ihrem
Hauptfeind, der imperialistischen BRD, wie die Bundesrepublik Deutschland
immer genannt wurde. Mit Erfolg betrieb der neue starke Mann in der DDR die
internationale Anerkennung seines Landes als souveräner deutscher Staat. Es
dauerte dann noch knapp 20 Jahre, bis auch Erich Honecker und seine
Gefolgsleute nach der friedlichen Revolution 1989 im Orkus der Geschichte
verschwanden.
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