Riesige Schere zwischen Arm und Reich
Was Berliner Tagelöhner um 1844, in der Zeit des Vormärz, verdienten und wie sie versuchten, über die Runden zu kommen



Das Denkmal des Ehepaars von Arnim wurde von Michael Klein geschaffen
und 1997 auf dem Berliner Arnimplatz enthüllt.



Die Grafik zeigt, wie ein Hungerkrawall 1847 in Stettin von preußischem
Militär niedergeschlagen wird.



Ein Steuereintreiber versucht, einem Mann den letzten Groschen
aus der Tasche zu ziehen.




Das Bild zeigt ein Berliner Barackenlager und unterstreicht, dass
sich die Lage der Armen auch nach der Reichseinigung nicht wesentlich
verbessert hat. (Foto/Repros: Caspar)

Die Schriftstellerin Bettina von Arnim, eine Schwester des Dichters Clemens Brentano, kam aus einem musischen Haus in Frankfurt am Main und war mit dem dort geborenen Johann Wolfgang von Goethe befreundet. Ihre Hoffnungen, die sie in den Thronwechsel von 1840 setzte, wurden enttäuscht. Der neue preußische König Friedrich Wilhelm IV. war nicht bereit, das überlebte Feudalsystem zu reformieren und Macht an das Volk in Gestalt eines gewählten Parlaments abzugeben. Ihm, dem traditions- und machtbewussten Schöngeist, widmete die Autorin 1843 eine Streitschrift mit dem ungewöhnlichen Titel "Dies Buch gehört dem König". Darin schildert sie schonungslos die erbärmliche Lage der Ärmsten der Armen unter den Berlinern, die im so genannten Voigtland, die nicht weit vom königlichen Schloss, hausten. Sie und weitere Elendsgestalten mussten sich und ihre Familien mit minimalen Löhnen über Wasser halten, und sie mussten noch froh sein, wenn die Arbeit hatten, denn Arbeitslosen, Kranken und Schwachen ging es noch schlechter.

Schreiendes Elend im "Voigtland"

Zwar hat der König den Eingang des Buchs bestätigt, doch ob es gelesen und gar verstanden hat, steht dahin. Friedrich Wilhelm IV. dürfte es als Unbotmäßigkeit empfunden haben, dass ihn eine seiner Untertanen aufforderte, sich seiner schlechten Berater zu entledigen und "ein guter König des Volkes" zu werden, dessen oberste Aufgabe es ist, Land und Volk vor dem Untergang zu retten. Mit einem solchen zwar lobenswerten, aber irrealen Ansinnen aber hat Bettina von Arnim den "Romantiker auf dem Thron" überfordert, denn das von ihm und seinen konservativen Ratgebern, unter denen auch Verwandte der Familie von Arnim waren, vertretene "monarchische Prinzip" sah zwar Volksnähe, aber keine wirkliche Volksbeteiligung an der Macht vor.

Die Autorin hatte mit Unterstützung des aus der Schweiz stammenden Lehrers Heinrich Grunholzer unzählige Daten über die prekäre Lebenslage von denen "da unten" gesammelt und ließ die erschütternden Beschreibungen von Armut, Wohnungselend, Krankheit, Hilflosigkeit im Anhang ihres "Königsbuches" abdrucken. Grunholzer hatte die verbreitete Armut in Berlin, das Elend in den Armenhäusern gesehen und seine Notizen über Schicksale der Ärmsten der Armen, aber auch über Verbrecher und deren Bestrafung Bettina von Arnim zur Verfügung gestellt, die sie unter dem Titel "Berichte eines jungen Schweizers aus dem Vogtlande" ihrem Königsbuch hinzufügte. Diese Beobachtungen erregten großes Aufsehen, doch konnten sie die zuständigen Behörden und die Fabrikherren nicht bewegen, den Notstand zu verbessern. "Vor dem Hamburger Tor, im sogenannten Voigtland, hat sich eine förmliche Armenkolonie gebildet. […] Am leichtesten übersieht man einen Teil der Armengesellschaft in den sogenannten ,Familienhäusern'. Sie sind in viele kleine Stuben abgeteilt, von welchen jede einer Familie zum Erwerb, zum Schlafen und Küche dient", heißt es in dem Buch. Hier lebten auch Invaliden aus den Befreiungskriegen, denen die Könige von Preußen ihre Macht verdankten und um die sich keiner mehr kümmerte, aber auch Leute, die nach Arbeitsunfällen auf kümmerliche Almosen angewiesen sind.

Bettina von Arnim, die über ein stattliches Vermögen verfügte, das ihr ein sorgenfreies Leben ermöglichte, ließ das Elend der Ausgestoßenen und Ausgeschlossenen nicht kalt. Kommende Katastrophen vorausahnend, prangerte sie auch die erbärmliche Lage der schlesischen Weber an, bei denen es 1844 zum Aufstand kam. Doch das geplante "Armenbuch" wurde nie gedruckt, weil die Autorin die berechtigte Sorge hatte, für eine Anführerin des "Weberkriegs" gehalten zu werden. Dass Friedrich Wilhelm IV. bei der Bewältigung der sozialen Probleme seiner Zeit versagte, vermochte nichts an Bettina von Arnims "romantischem" Glauben an die Kraft der Krone zu erschüttern. Doch das ersehnte Miteinander von Thron und Volk kam nicht zustande, vier Jahre nach dem Erscheinen des Buches brach in Berlin und an anderen Orten die Revolution aus, die den König von Preußen und seine Clique für ein paar Tage das Fürchten lehrte.

Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel

Schaut man in die Literatur der Zeit des Vormärz, so wird an Löhnen und Preisen die riesige Schere zwischen Arm und Reich, Unten und Oben deutlich. Der Berliner Journalist Ernst Drohnke, ein Zeitgenosse der Bettina von Arnim, durchstreifte zwei Jahre lang die preußische Haupt- und Residenzstadt und beschrieb die Lage in seinem 1846 in Frankfurt am Main erschienenen Buch "Berlin". Drohnke war nicht nur Gast berühmter Konditoreien und nahm an Vorlesungen an der Universität teil, die 1810 gegründet wurde, und er weilte nicht nur in feinen Salons sondern sah sich auch unter Arbeitern und Handwerkern um und schrieb auf, was sie verdienten und was sie für ihren Lebensunterhalt ausgeben mussten. Außerdem schilderte er die Willkür der Berliner Polizei und der Zensurbehörden, die jede freimütige, regierungskritische Äußerung zu unterdrücken versuchte. An seine Leser gewandt, schrieb Drohnke im Vorwort seines Georg Herwegh gewidmeten Buches: "Nehmen Sie, verehrter Freund, das Buch als das, was es ist, als ernstes Bestreben, zur Erkenntnis der Unzulänglichkeit der gegenwärtigen Verhältnisse beizutragen; ich übereiche Ihnen das, was ich zu bieten vermag, als ein Zeichen aufrichtiger Verehrung und Freundschaft."

Wegen "kommunistischer Tendenzen" in seinen Arbeiten wurde Drohnke 1845 ausgewiesen, doch statt zu resignieren, hat er die Verfolgungen in seinen "Polizei-Geschichten" dargestellt. Sein 1846 wegen eines zu erwartenden Zensurverbots in Frankfurt am Main veröffentlichtes Buch "Berlin" ist eine grandiose, an Bettina von Arnim und Georg Büchner geschulte Bestandsaufnahme der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Zustände in Berlin während der frühen Industrialisierung. Seine Veröffentlichung trug Drohnke den Vorwurf der Majestätsbeleidigung, Beleidigung des Berliner Polizeipräsidenten und Kritik an den Landesgesetzen ein, und so wurde er zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. In den Wirren der Revolution von 1848 gelang es dem Streiter für die politische und soziale Befreiung des Volkes, aus der Festung Wesel nach Brüssel zu fliehen, wo er die Bekanntschaft mit Friedrich Engels und Karl Marx machte. In Köln war Drohnke, inzwischen Mitglied des Bundes der Kommunisten, in der Neuen Rheinischen Zeitung tätig, für die auch Georg Weerth arbeitete. 1849 ging er in die Schweiz und später nach England, wo er sich ab 1852 aus der Politik zurückzog.

Das Buch "Berlin" kam 1987 bei Ruetten & Loening als Neuausgabe heraus, versehen mit einem Nachwort von Irina Hundt. Im Abschnitt "Das Proletariat" wird auf Groschen und Pfennig aufgelistet, was Arbeiter und Handwerker, die ja den eigentlichen Wohlstand in Preußen schufen, verdienten und wie ihr Leben "zum Trödel" verkommt. Drohnke gibt die Löhne getrennt nach Frauen und Männern an. Die Spanne bei Tagelöhnen reicht bei den Frauen von der Feinwäscherin in Höhe zwischen 10 und zwölf Silbergroschen bis hinab zu Fabrikmädchen, Schenkmädchen und Zigarrenmacherinnen, die zwischen zwei und sechs Silbergroschen bekamen. Bis zu zehn und zwölf Silbergroschen am Tag erhielten Feinwäscherinnen, Silber- und Goldstickerinnen sowie Friesiermädchen.

Frauen schlechter als Männer bezahlt

Wenn man weiß, dass ein Taler mit 30 Silbergroschen bewertet wurde, dann sind solche Löhne so gut wie nichts. Dazu muss man noch bedenken, dass die Frauen nicht das ganze Jahr arbeiten konnten, sondern eine "stille Zeit" von zwei bis vier Monaten hinnehmen mussten, in denen sie beschäftigungslos waren und kein Geld verdienten. An der unteren Lohnskala mit einem Tageslohn um vier Silbergroschen befanden sich Drohnke zufolge Frauen, die als Auslegerinnen in Druckereien, Deckennäherinnen, Stickerinnen oder Seidenwicklerinnen beschäftigt waren. Kinder, die aus purer Not zum Familienunterhalt beisteuern mussten, bekamen zehn bis zwölf Silbergroschen in der Sechstagewoche bei einem Zehn-Stunden-Tag oder 1 ½ Silbergroschen pro Schicht. Häufig wurden Arbeiterinnen nach Akkord bezahlt. Wenn etwa Zigarrenwicklerinnen zu viel Tabak verbrauchten, hat man ihnen das von ihrem Hungerlohn abgezogen.

Etwas besser als Frauen, Mädchen und Kinder wurden Männer bezahlt. Juweliere und Uhrmacher, das heißt hochspezialisierte Handwerker, bekam einen Tageslohn zwischen 15 und 20 Silbergroschen, ein Waffenschmied zwischen 10 und 15 Silbergroschen und ein Schriftsetzer 15 Silbergroschen. Schrift-, Gelb- und Eisengießer gingen mit einem Tageslohn zwischen 15 und 20 Silbergroschen nach Hause, während sich Maurer, Zinngießer, Klempner, Tischler und Buchdrucker mit zehn sowie Buchbinder mit 7 ½ Silbergroschen zufrieden geben mussten. Drohnke notierte zu einzelnen Posten, dass die Lohnempfänger vielfach ohne Arbeit sind und mit Kürzungen für Kost und Wohnung zu rechnen haben. "Aus diesen Tatsachen geht hervor", schreibt Drohnke, "dass einzelne bei ihrer Arbeit nicht mehr als zwei bis fünf Silbergoschen den Tag verdienen; dass sie von dieser Summe in Berlin nicht zu existieren vermögen. […] Sie arbeiten ohne Rast einen Tag wie den andern um die Existenz des Tages. Welche ,Ordnung' ist dies aber, welches sie doch von Natur haben, entzieht und spricht: ihr müsst euch dies Recht erst verdienen durch die anstrengendste, anhaltendste Arbeit! Aber glücklich sind diese, welche es noch zu verdienen imstande sind." Drohnke beschreibt an andere Stelle, wie gesundheitsschädlich bestimmte Arbeiten sind und verweist auf Lungenhusten, gebückte Körperhaltung und krumme Beine. "Und auch moralisch werden sie durch dies Leben in jeder Weise abgestumpft und vernichtet."

Hier schreiende Armut, dort Luxus und Völlerei

Auf der anderen Seite gab es in Berlin und nicht nur dort eine ungeheure Entfaltung von Luxus und Schlemmerei. Im 19. Jahrhundert sagte man zu einem doppelten Vereinstaler schlicht Champagnertaler, weil eine Flasche dieses köstlichen Getränks zwei Taler kostete. Dass der Name keine Legende ist wie manches rund um alte Münzen, sondern Realität, zeigt ein Blick auf historische Speise- und Getränkekarten. Der berühmte Königliche Hof-Traiteur Jagor mit der Adresse Unter den Linden 23 in Berlin war ein Ort vornehmer Gastronomie und luxuriöser Völlerei. Laut Speisekarte vom 8. Mai 1830 wurden für eine Flasche Champagner zwei Taler verlangt, die damals das Bildnis König Friedrich Wilhelms III. trugen. Für die halbe Flasche musste man einen Taler und fünf Silbergroschen zahlen. Wer die edlen Getränke, die auch mal drei Taler und mehr kosten konnten, nach Hause nehmen wollte, bekam einen Aufschlag von mehreren Silbergroschen. Da der Wochenlohn eines Arbeiters weit weniger als zwei Taler betrug und viele Menschen am Rande des Existenzminimums lebten, kann man sich ausrechen, wer den Hoflieferanten Jagor und ähnlich teure Etablissements besuchte und wer draußen blieb, sich vielleicht an den erleuchteten Schaufenstern die Nase platt drückte.

Um seine teure Hofhaltung, Schlossbauten, Kunstförderung, den Ausbau der Museen, die teure Armee und den ebenso kostspieligen Polizei- und Spitzelapparat finanzieren zu können, war Friedrich Wilhelm IV. und seinem Anhang nichts zu teuer. Für edlen geformte Gefäße aus Gold, Silber und Porzellan, teure Uniformen und Roben, für Schmuck und schöne Möbel wurden tausende und abertausende Taler ausgegeben, ohne dass "die da oben" ein schlechtes Gewissen quälte. Ein paar Promille dieser Summen hätten die Leute aus dem Voigtland und in den anderen Elendsquartieren glücklich gemacht und manche von ihnen vor dem Verrecken bewahrt. Stattessen aber wurden diejenigen, die den Finger in die Wunde legten und die Ungerechtigkeit und das weit verbreitete Elend anprangerten, und Bettina von Arnim und Ernst Drohnke waren nicht die einzigen Mahner und Warner, wurden mundtot gemacht, des Landes verwiesen oder ins Gefängnis geworfen.

23. November 2016



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