"Schöner Nerz , du liegst in Fransen"
Berlins Oberbürgermeister Gustav Böß verlor 1929 im Zusammenhang mit dem Sklarek-Skandal seinen Posten



Gustav Böß (rechts) posiert mit Karl Seitz, dem Bürgermeister
von Wien, 1929 vor dem Roten Rathaus.



Ein Bettler wartet auf der Zeichnung von Heinrich Zille aus dem
Jahr 1925 vor einem Feinkostladen auf eine kleine Gabe.



In der Polizeihistorischen Sammlung am Platz der Luftbrücke wird gezeigt,
was in den so genannten Goldenen Zwanziger Jahren an Litfasssäulen klebte.






Wer Geld hatte, ließ es sich in vornehmen Cafés, Hotels und Tanzpalästen
an der Friedrichstraße, am Kurfürstendamm und an anderen Orten
der Reichshauptstadt gut gehen. Das Foto darunter mit Relikten aus der
Zwischenkriegszeit wurde in den Arkaden des Bahnhofs Friedrichstraße
aufgenommen. (Fotos/Repro: Caspar)

Nach der Überwindung der Inflation 1923 erlebte Deutschland eine Phase relativer Stabilität. Nach dem überraschenden Tod des Reichspräsidenten Friedrich Ebert 1925 aufgrund einer nicht behandelten Blinddarmentzündung wurde der ehemalige kaiserliche Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg zum Nachfolger gewählt. Entgegen vielfältigen Befürchtungen, er würde die Monarchie anstreben, verhielt sich er sich gegenüber der Republik loyal und war von den demokratischen Parteien weitgehend anerkannt. Der 1923 zum Außenminister ernannte Gustav Stresemann bemühte sich um die Aussöhnung mit den ehemaligen "Feindmächten" und half, die außenpolitische Isolation des Deutschen Reichs durch verschiedene Verträge und den Beitritt in den Völkerbund zu überwinden. Es gelang, dringend zur Konsolidierung der Wirtschaft benötigte Auslandskredite, vor allem solche aus den USA, zu beschaffen. Diese Finanzhilfen trugen für wenige Jahre zur relativen Stabilisierung des Landes bei.

Ungeachtet der schweren innenpolitischen Spannungen und gesellschaftlichen Verwerfungen sowie der großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach dem Ersten Weltkrieg war die Weimarer Republik von einem ungekannten Aufschwung von Kunst, Kultur, Wissenschaft und Technik gekennzeichnet. Hier seien stellvertretend für viele andere Meister ihres Fachs die Schriftsteller Thomas und Heinrich Mann, Hermann Hesse, Lion Feuchtwanger, Gerhart Hauptmann, Ricarda Huch und Kurt Tucholsky genannt. Bildende Künstler wie Käthe Kollwitz, Max Liebermann, Lovis Corinth, Lionel Feininger und Ernst Barlach machten mit ihren Arbeiten Furore. Walter Gropius, Hans Poelzig, Peter Behrens und weitere Architekten kreierten einen neuen Baustil. Musiker wie Richard Strauß und Paul Hindemith und der Regisseur Max Reinhardt, Wissenschaftler wie Albert Einstein und Max Planck und viele andere trugen zum Ansehen der neuen deutschen Republik bei. Abkehr von der wilhelminischen Zeit und die leidvollen Erfahrungen des Krieges machten den Weg frei für Radikalität und Avantgarde. Dadaisten wie George Grosz oder Hannah Höch widmeten sich mit ihren sozialkritischen Arbeiten den drängenden Zeitfragen. Kurt Tucholsky schrieb für die "Weltbühne" gegen Militarismus und die erstarkende Rechte an, und Alfred Döblin porträtierte die hektische Metropole in seinem Roman "Berlin-Alexanderplatz". Zwischen 1918 und 1933 gingen etliche Nobelpreise an deutsche Literaten und Forscher, darunter an Max Planck, Albert Einstein, Gustav Hertz, Thomas Mann und Werner Heisenberg.

Licht und Schatten der Goldenen Zwanziger

Die wenigen Jahren zwischen der Novemberevolution und der Abschaffung der Monarchie 1918 und der Errichtung der NS-Diktatur 1933 gelten als die "Goldene Zwanziger" bezeichnet. In ihnen griff ein neues, freieres Lebensgefühl um sich, und es machten großartige Werke der Literatur und bildenden Kunst von sich reden. Spitzenleistungen der Wissenschaft und Technik wurden vollbracht, bedeutende Erfindungen wurden von deutschen Ingenieuren gemacht. Das Logo "Made in Germany" hatte international großes Ansehen. Film und Rundfunk drangen in ferne Winkel des Reiches. Der alte Muff und Mief der Kaiserzeit, die Hohlheit der Etikette, monarchischer Schwulst landeten auf dem Müllhaufen der Geschichte. Die Eliten gaben sich bürgernah, und auf dem Lande wurden feudale Strukturen langsam aufgebrochen, wenn auch nicht beseitigt. Männer und Frauen gingen miteinander ungezwungener um, wenigstens in den Metropolen. Eisenbahn und Automobil, Zeppelin und Flugzeug, aber auch moderne Nachrichtenmittel ließen Entfernungen schrumpfen. Das waren wunderbare Errungenschaften, die diese Zeit nach 80 Jahren in ein verklärendes Licht tauchen. Doch das Gold, mit dem die zwanziger Jahre sprachlich überzogen wurde, war dünn, sehr dünn. Denn unter der glänzenden Oberfläche bot sich ein anderes Bild. Es gab bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken, und es blühte die Kriminalität. Der Gegensatz zwischen dem Luxusleben der Reichen und der Neureichen auf der einen Seite und dem Elend in den Mietskasernenvierteln schrie zum Himmel.

Korruption in großem Stil

Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 wandelte sich in Deutschland die politische und wirtschaftliche Lage. Arbeitslosigkeit und Not griffen um sich, es kam zu Streiks und Unruhen. Nach dem Börsenkrach an der Wallstreet in New York am 25. Oktober 1929, bei dem Wertpapierkurse bis um 90 Prozent fielen, wurden vor allem die amerikanischen Kredite aus Deutschland abgezogen. Das traf die deutsche Wirtschaft bis ins Mark. Sie hatte bisher weitgehend auf Pump gelebt und produziert. Jetzt, da sie die Mittel nicht mehr hatte, mussten Millionen Arbeiter auf die Straße gesetzt werden. Das hatte massenhafte Verelendung, Tristesse und Mutlosigkeit zur Folge.

Viele von Arbeitslosigkeit und damit auch von Ansehensverlust betroffene Menschen bis in die Mittelschichten hinein setzten ihre letzten Hoffnungen in Heilsversprechen rechter und linker Agitatoren, die für ein "Drittes Reich", in dem die "germanische Herrenrasse" den Ton angibt und Juden keinen Platz haben, beziehungsweise für ein "Sowjetdeutschland" stalinscher Prägung warben. Hitlers NSDAP, die vor allem gegen die Juden und Bolschewisten hetzte und sie zu Sündenböcken für nationalen Niedergang und das herrschende Elend machte, gewann Zulauf, fasste sogar Fuß in den Parlamenten. Bewaffnete Stoßtrupps der Nazis und der Kommunisten lieferten sich blutige Straßenschlachten und versetzten der labilen Republik einen Schlag nach dem anderen. Einen erdrutschartigen Wahlsieg erzielten die Nazis 1930 bei der Reichstagswahl. Nach der SPD wurden sie zweitstärkste Fraktion. Als 1932 erneut eine Reichspräsidentenwahl anstand, bewarb sich Hitler um das Amt, allerdings vergeblich, denn Hindenburg wurde zum zweiten Mal gewählt.

Berlin war in dieser Zeit von Skandalen gekennzeichnet. In die wohl schlimmste Affäre dieser Art war der langjährige Oberbürgermeister Gustav Böß verwickelt. 1921 für zwölf Jahre in dieses Amt gewählt, hatte er sich für eine stärkere Zentralisierung in der Vier-Millionen-Stadt eingesetzt. Er ließ Spiel- und Sportstätten bauen und Parks anlegen, und er half bei der Entwicklung von Kunst und Kultur. Große Verkehrs- und Bauprojekte wie die Messe Berlin und der Flughafen Tempelhof wurden von ihm initiiert.

Beim Sklarek-Skandal ging es um Korruption großen Stils, der durch einen im September 1929 eröffneten Prozess gegen die Brüder Max, Leo und Willi Sklarek aufgeklärt wurde. Die Affäre spielte eine große Rolle in den politischen Auseinandersetzungen vor und während der Weltwirtschaftskrise. Sie beeinflusste negativ das Klima in Berlin und die Kommunalwahlen und ebnete nicht zuletzt den Nazis den Weg an die Macht. Der verdienstvolle Berliner Oberbürgermeister verlor im Zusammenhang mit dem Sklarek-Skandal viel Vertrauen und sah sich gezwungen, sein Amt niederzulegen. Die Textilfirma Sklarek hatte sich Politiker und Beamte geneigt gemacht, indem sie ihnen verbilligte Kleidung verschaffte. Im Gegenzug bekamen die Brüder ein Belieferungsmonopol für Krankenhäuser und Fürsorgeeinrichtungen. Außerdem begingen sie Kreditbetrug.

Die Frau von Gustav Böß hatte von der Firma Sklarek einen teuren Pelzmantel billig erhalten. Als das ruchbar wurde, bekam er ein Verfahren wegen Dienstvergehens im Amt. Es endete in erster Instanz mit einer Verurteilung zur Dienstentlassung, die aber später aufgehoben wurde. Im folgenden Berufungsverfahren wurde der Vorwurf fallen gelassen, doch musste Böß eine Geldbuße in Höhe eines Monatsgehaltes zahlen. Im Anschluss an das Berufungsverfahren ließ sich der gesundheitlich angeschlagene Beamte in den Ruhestand versetzen. Nach seinem spektakulären Fall waren alle seine Verdienste um die Stadt vergessen. Böß wurde zum Buhmann, doch war er nicht der einzige, der mit Sklarek zu tun hatte, denn außer ihm wurden verschiedene Stadträte wegen Korruption zur Rechenschaft gezogen. Die Brüder Sklarek wurden zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Einer der Brüder starb nach der Entlassung in Prag, die anderen wurden von den Nazis in Sachsenhausen beziehungsweise in Auschwitz ermordet. Die Nazis strengten nach ihrer Machtübernahme gegen Böß ein neues Verfahren gegen ihn an und warfen ihm vor, zu hohe Bezüge kassiert und überteuerte Kosten für den Umbau seiner Dienstwohnung verursacht zu haben. Da sich die Vorwürfe als unbegründet erwiesen, wurde die Anklage gegen den verhassten "Systempolitiker" fallen gelassen. Er kam nach neunmonatiger Untersuchungshaft frei und verließ Berlin. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er zurückgezogen am Starnberger See, wo er 1946 starb. Dass 1991 eine Straße unweit des Roten Rathauses und nahe dem Alexanderplatz nach Gustav Böß benannt wurde, war das eine Ehrenrettung für das Stadtoberhaupt, das aus eigener Dummheit sein Amt verlor, es aber verdient hat, dass man sich seiner mit Respekt erinnert.

Angriffe auf das Weimarer "System"

Gustav Böß hatte in der von ihm geleiteten Stadtverwaltung nicht ausreichend für Kontrollen und eine Atmosphäre gesorgt, die die Annahme von Vergünstigungen und Vorzugspreisen unmöglich macht. Dass dergleichen aber in einer Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs und zunehmender politischer Polarisierung möglich war, dass sich Beamte bereichern konnten, drängte die auf tönernen Füßen stehende Weimarer Republik weiter in die Defensive. KPD und NSDAP stellten sich als Saubermänner hin und brandmarkten die parlamentarische Demokratie als angeblich besonders anfällig für Vetternwirtschaft und Korruption. Dabei war die Geschichte der Kaiserzeit ebenfalls von solchen Affären durchzogen, die dank der oppositionellen Presse nicht vertuscht wurden. Erwähnt sei, dass Böß die für 1930 geplante Siebenhundertjahrfeier Berlins ablehnte. Zu Recht befand er, dass man das Spektakel den bereits von der Weltwirtschaftskrise und von Arbeitslosigkeit betroffenen Berlinern nicht zumuten kann. 1937 zelebrierten die Nazis das Stadtjubiläum mit deutschtümelnden und rassistischen Parolen unter wehenden Hakenkreuzfahnen.

Die unglückliche Rolle von Gustav Böß im Sklarek-Skandal wurde von rechten und linken Extremisten genutzt, um nach dem Motto "Zu Asche wirst du Schwein verwehn / Für dich werden Ehrenmänner stehn" das Weimarer "System" anzugreifen. Der Oberbürgermeister, dessen Name in der Kundenkartei der Brüder Sklarek vermerkt war, wurde zur Spottfigur. In Berlin sang man einen Gassenhauer nach der Melodie des damals populären Schlagers "Schöner Gigolo, armer Gigolo" mit neuem Text: "Bürgermeister Böß, Bürgermeister Böß / denke nicht mehr an die Zeiten, / als Du warst im Amt, / gingst in Seid´ und Samt, / konntest Deutschlands Zukunft leiten, / Stellung ging passé, Sklarek sagt adé, / schöner Nerz , du liegst in Fransen / und da kriegst Du noch zum Lohn / eine klotzige Pension, / nun geh und lass das Streiten." Das ursprüngliche Lied hatte Julius Brammer 1924 verfasst, um den sozialen Zusammenbruch der österreich-ungarischen Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg zu charakterisieren. Am Schicksal eines ehemals feschen Husarenoffiziers wird gezeigt, wie dessen goldverschnürte Uniform zum schäbigen Fetzen wird und sich ihr Träger sein Brot als Eintänzer, auch Gigolo genannt, verdienen muss. Dieses Schicksal blieb Gustav Böß erspart, aber er war lange eine vergessene Figur. Erst 1991 widmete ihm das Berlin Museum, das später in der Stiftung Stadtmuseum aufging, eine Ausstellung, und auch später hat man sich dort und anderswo rehabilitierend seiner erinnert.

18. August 2016



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