Puderdose und Lippenstift
Aus der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, in deren Schatten ein ungeheuerliches Verbrechen begangen wurde



Ein weltbekanntes Wahrzeichen ist die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
auf dem Breitscheidplatz im Berliner Ortsteil Charlottenburg



Der Torso der alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und ihr moderner
Glockenturm wurde 1960 mit den Worten karikiert "Der neue Turm fährt auf
den alten Schienen immer drum herum."



Die Lage der Kirche auf einer Verkehrsinsel unweit des Bahnhofs Zoologischer Garten
(links oben) ist auf dem Foto aus der Mitte der 1930-er Jahre gut zu erkennen.




Kaiser Wilhelm II. und seine Gemahlin (3. und 4. von rechts) ließen sich und ihre
Vorfahren in der Manier mittelalterlicher Mosaiken feiern. Bei den
Wandbildern in der Eingangshalle sind und Fehlstellen aus der Kriegszeit zu sehen.






Kostbare Altargeräte und andere Erinnerungsstücke wie das Kreuz des
Schwarzen Adlerorden und weitere Auszeichnungen sind in der Eingangshalle
ausgestellt. (Fotos/Repros: Caspar)

Die Umgebung der 1891 bis 1895 zur Erinnerung an den deutschen Kaiser und preußischen König Wilhelm I. nach Plänen des Architekten Franz Heinrich Schwechten erbaute Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin erlangte traurige Berühmtheit durch das Attentat des tunesischen Islamisten Anis Amri am 19. Dezember 2016. Der 24-Jährige hatte einen gekaperten Lastkraftwagen in den auf dem Breitscheidplatz im Schatten der Gedächtniskirche befindlichen Weihnachtsmarkt gesteuert. Zwölf friedlich feiernde Menschen wurden in den Tod gerissen und weitere fünfzig zum Teil schwer verletzt. Der Massenmord löste eine intensiv und hochemotional geführte Debatte über die Frage aus, wie es kommen konnte, dass der den Behörden als so genannter Gefährder bekannte und zeitweilig in deutschem Gewahrsam befindliche Terrorist einen solchen Mordanschlag planen und ausführen konnte und wer seine Mitwisser und Hintermänner sind. Ungeklärt ist bisher auch die Frage, wie dem Tunesier nach seiner Bluttat die Flucht trotz mobilisierter Polizei aus Berlin gelingen konnte und wie er sich über das im Ausnahmezustand befindliche Frankreich bis Mailand durchschlagen konnte. Dort wurde er bei einer Ausweiskontrolle erschossen. Einer der beiden italienischen Polizisten wurde dabei von Amri angeschossen, ist aber außer Gefahr.

In der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche fanden nach der Bluttat Gedenkgottesdienste statt, und manch ein Besucher wird sich gefragt haben, was das für ein eigenartiges Gebäude ist. Im Zweiten Weltkrieg stark zerstört, wurde die in der Kaiserzeit im Stil der rheinischen Spätromanik erbaute Kirche 1950 bis 1960 nur zum Teil wiederaufgebaut. Sie erhielt einen modernen Anbau für Andachten und Konzerte sowie einen Turm. Von dem Architekten Egon Eiermann gestaltet, erhielten die blau verglasten Ergänzungsbauten die Spitznamen Puderdose und Lippenstift. In den vergangenen Jahren wurde die nach dem Willen ihres Stifters, Kaiser Wilhelm II., dem Kult um das in Preußen herrschende Haus Hohenzollern gewidmete Kirche saniert. Es hatte sich herausgestellt, dass der in der Nachkriegszeit verwandte Beton für Eiermanns Turm, die achteckige Kapelle und weitere Bauten saniert werden muss. Risse wurden geschlossen und die Dächer abgedichtet. Außerdem hat man die Infrastruktur der Neubauten sowie Treppen und Zugänge unter Beachtung des Denkmalschutzes erneuert.

Schaut man in die Annalen des ursprünglich für den Wittenbergplatz bestimmten, dann aber auf dem Auguste-Viktoria-Platz, dem heutigen Breitscheidplatz, errichteten Gotteshaus, so zeigt sich, dass es bereits zur Erbauungszeit und danach nicht jedermanns Sache war, ja dass der kaiserliche Auftrageber, der Architekt Schwechten und die an der Ausstattung beteiligten Künstler mehr oder weniger heftigen Angriffen wegen des unmäßig entfalteten Prunks und Pomps ausgesetzt waren. Die Bausumme betrug alles in allem 6,4 Millionen Mark. Das war ein Bruchteil dessen, was ein Panzerkreuzer der kaiserlichen Marine verschlang.

Zwar wurde die Kirche am 1. September 1895 feierlich eingeweiht, doch fertig gestellt war sie noch lange nicht. Die umfangreichen Steinmetz-, Bildhauer-, Mosaik- und Glasbildarbeiten zogen sich noch lange hin. Erst 1906 konnte die reich mit Mosaiken geschmückte Vorhalle eröffnet werden. Sie zeigt, wie Mitglieder des hohenzollernschen Herrscherhauses in einer feierlichen Prozession in das Reich Gottes einziehen. Wie solche Zeremonien in der Gegenwart geschehen, konnte man bei Umzügen von Rittern des Hohen Ordens vom Schwarzen Adler in Anwesenheit der kaiserlichen Familie und bei anderen Gelegenheiten beobachten. Bei ihnen entfaltete das Deutsche Reich allen erdenklichen Prunk, doch musste das Volk draußen bleiben und konnte nur staunend zuschauen. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs (1914-1918) fanden in der Kirche Gedenkgottesdienste für die Gefallenen, aber auch Konzerte statt, bei denen nur noch "deutsche Musik" erklang, was immer man in der nationalistisch und patriotisch aufgeladenen Zeit darunter verstand.

Nach dem Sturz der Monarchie im Verlauf der Novemberevolution 1918 änderte sich die Meinung über die ihres kaiserlichen Patrons beraubte Kirche. Jetzt empfand man das wie auf einer Insel stehende Gotteshaus mit dem hohen Uhrenturm als Hindernis für den stark anwachsenden Autoverkehr. Als die Kirche in der Nacht zum 23. November 1943 durch eine alliierte Luftmine schwer beschädigt wurde, blieben Teile der goldstrotzenden Mosaiken und andere Dekorationsstücke erhalten. Sie wurden in den folgenden Jahrzehnten restauriert, so weit das möglich war. In der Nachkriegszeit gab es Diskussionen um die Frage, ob das Gotteshaus wieder aufgebaut, ob es als Torso und Mahnmal erhalten werden oder ob es abgerissen und an einer anderen Stelle wieder aufgebaut werden soll.

In der Westberliner Öffentlichkeit gab es auch Stimmen, die für die komplette Beseitigung des von manchen als besonders hässlich und monströs empfundenen Zeugnisses aus der wilhelminischen Periode der deutschen Geschichte plädierten. In beiden Teilen der Viermächtestadt Berlin war man damals nicht zimperlich als es darum ging, sich von ungeliebten und unnütz empfundenen Kriegsruinen zu trennen. Beispiele dafür sind der Abriss des Stadtschlosses, des Schlosses Monbijou und der Berliner Börse im Ostteil der Stadt sowie des ehemaligen Prinz-Albrecht-Palais an der Wilhelmstraße auf Westberliner Seite, das in der NS-Zeit als Hauptquartier der SS und der Gestapo einen schlimmen Ruf hatte. In einem Kommentar schrieb die auflagestarke Zeitung BZ am 21. März 1957 zu Ideen, die Kirche ganz zu beseitigen: "Nein, und tausendmal nein! Diese Kirche mag früher als Bauwerk vielen nicht gefallen haben. Jetzt, als Ruine ist sie schön. An dieser Ruine hängen für jeden von uns tausenderlei Erinnerungen. Diese Ruine kann unseren Kindern, unseren Enkelkindern mehr sagen, als jedes Geschichtsbuch zu sagen vermag. Diese Ruine dämpft unseren Hochmut, der uns manchmal befällt in der Zeit des Wirtschaftswunders."

Zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gehört, dass sie im Mittelpunkt von Studentenprotesten gegen den Vietnamkrieg der USA und allgemein gegen den "Schweinestaat" Bundesrepublik Deutschland stand, aber auch Attacken von Vandalen und von Kriminellen ausgesetzt war, die den Opferstock plünderten. Es gab Kirchenbesetzungen und den Antrag, das Gotteshaus in Bertha-von-Suttner-Kirche umzubenennen zur Erinnerung an die Friedensaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner und ihren Ruf "Die Waffen nieder". Das alles ist Geschichte, doch leider ist der Massenmord vom 19. Dezember 2016 traurige Realität. .

28. Dezember 2016



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