Perfider Aufruf zum Rassenhass
Reaktion auf eine Hetzkarte mit dem Motto "Juden unter uns!" ließ nicht lange auf sich warten / Einrichtungen sind gewarnt und stehen unter besonderem Schutz



Unter den auf der Karte "Juden unter uns!" markierten jüdischen Gedenkorten
befindet sich das Holocaust-Denkmal in der Nähe des Brandenburger Tors.



Weil die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in einem dicht bewohnten
Viertel steht, hat man sie 1938 beim Pogrom nicht ausbrennen lassen. Während des
Zweiten Weltkriegs wurde das 1866 eingeweihte Gotteshaus zerbombt,
der vordere Teil konnte später gerettet und restauriert werden.






So sah die Synagoge in der Berliner Fasanenstraße nach dem Pogrom aus,
das Portal und andere gerettete Teile wurden in den Neubau eingefügt.




Wie alle jüdischen Einrichtungen und Gedenkorte steht auch der Jüdische Friedhof
in Berlin-Weißensee unter besonderem Polizeischutz. (Fotos: Caspar)

Während alle Welt am 8. November 2016 nach Amerika starrten, wo gegen alle Prognosen der Milliardär und Spitzenkandidat der Republikaner Donald Trump zum neuen US-Präsidenten gewählt und in Deutschland des Nazi-Pogroms vom 9. November 1938 und der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 gedacht wurde, haben sich Berliner Neonazis eine besonders perfide Aktion ausgedacht. Zum 78. Jahrestag der so genannten Reichspogromnacht hat eine wohl in Neukölln ansässige Neonazigruppe auf ihrer Facebook-Seite eine Karte mit Adressen von etwa 70 jüdischen Einrichtungen in der Hauptstadt gepostet. Unter den markierten Orten befinden sich die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße und die Synagoge in der Fasanenstraße, aber auch das Holocaust-Mahnmal in der Nähe des Brandenburger Tors.

In gelber Frakturschrift steht auf der rot eingefärbten Karte die schon von den Nationalsozialisten verwendete Parole "Juden unter uns!". Eingezeichnet sind mit kleinen Punkten Synagogen sowie jüdische Kindergärten und Schulen, aber auch Geschäfte, Restaurants, Gedenkstätten und Friedhöfe. Die Verfasser haben ihre Hetzkarte mit "Heut ist so ein schöner Tag!" überschrieben. Entdeckt wurde sie von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR). Die Polizei leitete Ermittlungen wegen Verdacht auf Volksverhetzung ein, der Staatsschutz des Landeskriminalamtes ist eingeschaltet. Gemeinsam mit dem Büro des Bundestagsabgeordneten Volker Beck (Grüne) hat die Organisation alle aufgelisteten jüdischen Einrichtungen informiert und gewarnt. Nach Informationen der MBR-Projektleiterin Bianca Klose werden von der Neuköllner Nazi-Gruppe, die zum Umfeld des "Nationalen Widerstandes" gehören soll, regelmäßig offen rassistische und antisemitische Beiträge veröffentlicht.

Heiko Maas, übernehmen Sie!

"Wir finden das unerträglich", heißt es in Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Die Karte erinnere an Listen, wie sie zum Pogrom vom 9. November 1938 veröffentlicht wurden. Volker Beck äußerte sich empört und bekundete Solidarität mit der jüdischen Gemeinde in Berlin. "Ich sehe darin einen Angriff auf unsere offene Gesellschaft. Es ist ein Angriff auf uns alle", sagte er und nannte die Aktion eine gezielte Provokation. Laut Volker Beck habe Facebook die Auforderung zurückgewiesen, den Eintrag zu löschen, angeblich handle es sich um keinen Verstoß gegen Gemeinschaftsstandards. Den Bundesjustizminister fordert Beck auf: "Heiko Maas, übernehmen Sie!" Facebook löscht zwar Botschaften und Bilder rigoros von seinen Seiten mit nackter Haut, lässt aber fremdenfeindliche und hetzerische Inhalte häufig zu.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gingen die Nazis zur offenen Gewalt gegen Juden über. In Berlin und dem ganzen Deutschen Reich einschließlich des von Hitler okkupierten Österreich brannten am 9. November 1938 die Synagogen. Wenige Synagogen überstanden den Pogrom, sofern sie wie die Neue Synagoge in Berlin in einem dicht bewohnten Viertel standen. Offizieller Auslöser für den antijüdischen Gewaltakt war das Attentat des aus Hannover stammenden Herschel Grynszpan am 7. November 1938 auf Ernst vom Rath, der als Legationsrat an der deutschen Botschaft in Paris Dienst tat.

Verniedlichende Begriffe

Die Herkunft der euphemistischen Bezeichnung Kristallnacht oder Reichskristallnacht für die Gewalt- und Mordaktion ist nicht klar. Anscheinend wurde sie erst nach dem Ende des Nazistaates erfunden. Bis heute wird er da und dort gedanken- und geschichtslos verwendet, vergleichbar mit Begriffen wie Drittes Reich für die NS-Diktatur, Sonderbehandlung für Massenerschießungen, Gleichschaltung für Übereinstimmung, Verschickung für die Deportation von Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager sowie Selektion für ihre Aussonderung für den Tod im Gas oder zur Zwangsarbeit. Ein Beweis, dass die Nazis selber verniedlichend von Reichskristallnacht sprachen, um ihre antijüdischen Ausschreitungen und ihre Folgen verbal zu kaschieren, konnte nicht erbracht werden. In der damaligen Presse war nur von spontaner Demonstration, Antwort im Sinne des gesunden Volksempfindens oder Vergeltung auf den Anschlag auf Ernst vom Rath in Paris die Rede.

Der Tod des deutschen Diplomaten wurde von den Nationalsozialisten sofort als Ausdruck einer jüdischen Weltverschwörung ausgeschlachtet und weitete sich zu einem von ganz oben, also mit Hitlers Wissen und Billigung, angestachelten Gewaltakt aus, wie es ihn in Deutschland so noch nie gegeben hat. In seinem Tagebuch hielt Joseph Goebbels fest, Hitler habe bestimmt, die "Demonstrationen" weiterlaufen zu lassen und die Polizei zurückzuziehen. "Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu spüren bekommen", zitierte der Propagandaminister, der sich gerade in München bei den Gedenkfeiern zum 9. November 1923 aufhielt, seinen Führer und setzte hinzu: "Ich gebe die entsprechenden Anweisungen an Polizei und Partei. Dann rede ich kurz dementsprechend mit der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust an die Telefone. Nun wird das Volk handeln. Einige Laumänner machen schlapp. Aber ich reiße immer wieder alle hoch. Diesen feigen Mord dürfen wir nicht unbeantwortet lassen".

Mord, Raub und eine so genannte Sühneleistung

In der Reichspogromnacht drangen Partei- und SA-Schläger mit Äxten, Brechstangen, Hämmern, Messern, Schusswaffen, Fackeln und anderen Gegenständen deutschlandweit in Synagogen und andere jüdische Einrichtungen ein, steckten die Gebäude in Brand, zerschlugen Türen und Fenster und raubten, was ihnen unter die Finger kam. Das gleiche geschah mit jüdischen Geschäften, sofern es sie noch gab, sowie mit Wohnungen, von denen die Goebbels-Presse behauptete, es seien nur solche reicher Juden betroffen gewesen. Unter der Überschrift "Ist die Judenfrage gelöst?" zog das antisemitische Hetzblatt "Der Stürmer" (Ausgabe 48, Dezember 1938) diese von Lügen und Heuchelei strotzende Bilanz: "Des deutschen Volkes bemächtigte sich eine ungeheure Erregung. Noch in der Nacht vom 9. auf 10. November demonstrierten die Massen vor jüdischen Geschäften und den Prunkwohnungen jüdischer Volksaussauger. Es war unvermeidlich, dass dabei etliche Schaufensterscheiben zerbrochen wurden und die eine oder andere jüdische Herrschaftswohnung an ihrem strahlenden Glanze Einbuße erleiden musste." Dass die jüdische Auslandspresse aus diesen Geschehnissen die "grauenhaftesten Judenverfolgungen" konstruierte, sei vorauszusehen gewesen. Solche Gräuelmärchen nehme aber heute kein vernünftiger Mensch mehr ernst, fuhr Streichers Hetzblatt fort, das sich "Deutsches Wochenblatt zum Kampf um die Wahrheit" nannte, und behauptete, jüdische Dichterlinge, Gauner, Verbrecher und Untermenschen würden "überall Hader und Zwietracht säen."

Nach damaligen Statistiken sollen etwa 400 Menschen ums Leben gekommen sein, weitere begingen Selbstmord. Die Zahlen sagen nichts über das Leid und auch die materiellen Verluste, die der Pogrom verursacht hatte, seien hier aber genannt: fast alle der etwa 1400 Synagogen lagen in Schutt und Asche, rund 7500 Geschäfte waren ausgeraubt und niedergebrannt, etwa 30 000 männliche Juden wurden als "Vergeltung" für das Attentat in die KZ eingeliefert, wo viele elend zugrunde gingen. Eine Verordnung verpflichtete die Juden zu einer "Sühneleistung" in Höhe von einer Milliarde Reichsmark. Mit dieser unvorstellbar großen Summe sollten die Schäden beglichen werden, die die Nazis durch das Abbrennen der Synagogen und Geschäfte angerichtet hatten.

10. November 2016

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