"Wejen Ausdrücken"
Der Sprachforscher und Holocaust-Überlebende Victor Klemperer wird mit einer Berliner Gedenktafel geehrt



Die Gedenktafel ist leicht an einem zur Humboldt-Universität gehörenden Gebäude
gegenüber der Berliner Museumsinsel zu finden.



In Berlin wurde Ende 1938 der "Judenbann" für die Innenstadt sowie politisch und militärisch
sensible Bereiche ausgerufen. Museen durften von Juden nicht mehr betreten werden.



Im Polizeimuseum am Berliner Platz der Luftbrücke wird auch an die Verfolgung und
Ermordung der Juden unter dem Nationalsozialismus erinnert.




Diese und Millionen andere Träger des gelben Sterns mussten den Weg in die
Konzentrationslager antreten, ihre Mörder nannten die Deportationen euphemistisch
Abschiebung oder Umsiedlung. (Fotos/Repros: Caspar)

Mit seinem 1947 und danach in weiteren Auflagen veröffentlichten Buch "LTI - Notizbuch eines Philologen" hat der Dresdner Sprachwissenschaftler und Literaturhistoriker Victor Klemperer ein Grundlagenwerk über die Sprache des Dritten Reichs und den Alltag in der NS-Zeit geschaffen. Am Haus Dorotheenstraße 1 in Berlin-Mitte, der Museumsinsel gegenüber, erinnert eine Berliner Gedenktafel an den Gelehrten, der seine Professur an der Technischen Hochschule aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze verloren hatte. Da er mit einer "arischen" Frau verheiratet war, konnte er den Holocaust überleben. Als Dresden bombardiert wurde, sollte er sich bei der Gestapo melden, um mit weiteren Juden "auf Transport" zu gehen, was nichts anderes bedeutete, als in einem der Vernichtungslager vergast zu werden. "Am Abend dieses 13. Februar brach die Katastrophe über Dresden herein: die Bomben fielen, die Häuser stürzten, der Phosphor strömte, die brennenden Balken krachten auf arische und nichtarische Köpfe, und derselbe Feuersturm riss Jud und Christ in den Tod; wen aber von den etwa 70 Sternträgern diese Nacht verschonte, dem bedeutete sie Errettung, denn im allgemeinen Chaos konnte er der Gestapo entkommen."

Nach dem Entzug der Lehrerlaubnis begann der Philologe unter ständiger Bedrohung durch die Gestapo, Tagebuch zu schreiben und Materialien über die Nazisprache zu sammeln und zu kommentieren. Seinen durch Auswertung von Zeitungsartikeln, Rundfunkkommentaren und anderen Quellen gewonnenen und in einer Art Loseblattsammlung aufgeschriebenen Erkenntnissen gab Klemperer das Kürzel LTI in Analogie zu den Abkürzungen, die zahlreiche NS-Organisationen benutzten. In 36 Kapiteln befasst sich das "Notizbuch eines Philologen", so der Untertitel von LTI, mit der Volksverdummung durch die NS-Propaganda sowie mit einzelnen Wörtern und Wendungen wie Ansturm der Steppe, Ariernachweis, Blut und Boden, coventrieren, Drittes Reich, Endlösung, Fanatismus, Festung Europa, gesundes Volksempfinden, Gefolgschaft, Gleichschaltung, Großdeutsches Reich, Humanitätsduselei, Menschenmaterial, Systemzeit, Unter- und Herrenmenschen, gesundes Volksempfinden, Volkskörper, Vorsehung und Weltanschauung, aber auch mit braunem Gedankengut, die er in Mitteilungen über Hochzeiten, Geburten und Todesfällen fand. Thema des Buches war darüber hinaus die Art und Weise, wie den "Volksgenossen" mit Euphemismen und Tarnbezeichnungen militärische Rückzüge und Niederlagen schmackhaft gemacht und die verzweifelte Lage des Deutschen Reiches verschleiert wurde.

Farbe der Pest und des Neides

Eines der Kapitel in LTI ist dem Judenstern gewidmet, den Klemperer und seine Leidensgenossen 1941 anlegen mussten. Bereits im Mittelalter mussten Juden bestimmte Kennzeichen tragen, um sie sofort als solche erkennen zu können. Am 23. Juni 1938 wurde im Deutschen Reich die Kennkarte mit dem diskriminierenden Aufdruck J für Juden eingeführt, vergleichbar mit dem Z für Zigeuner, also Sinti und Roma. Ab 1. September 1941 hatten Juden einen gelben Stern gut sichtbar auf der Kleidung zu tragen. In Polen galt diese Vorschrift bereits seit dem Überfall am 1. September 1939. Mit dem Ziel, Städte und Reginen "judenrein" zu machen, durchkämmte die Gestapo im Zweiten Weltkrieg Wohnhäuser und Betriebe. Wer erwischt wurde, wurde in die Vernichtungslager deportiert. Da und dort ist Juden geholfen worden unterzutauchen und mit Lebensnotwendigem versehen. Inmitten des Grauens war Humanität nicht ganz verloren gegangen. In LTI schrieb er über den 19. September 1941, als es den Juden zur Pflicht gemacht wurde, den Judenstern zu tragen, der "Lappen in der gelben Farbe, die heute noch Pest und Quarantäne bedeutet und die im Mittelalter die Kennfarbe der Juden war, die Farbe des Neides und der ins Blut getretenen Galle, die Farbe des zu meidenden Bösen; der gelbe Lappen mit dem schwarzen Aufdruck ,Jude', das Wort umrahmt von Linien der ineinandergeschobenen beiden Dreiecke, das Wort in dicken Blockbuchstaben gebildet, die in ihrer Isoliertheit und in der breiten Überbetontheit ihrer Horizontalen hebräische Schriftzeichen vortäuschen". Der mit dem Judenstern gezeichnete Gelehrte hatte mit so genannten Ariern schlimme Begegnungen, der eine oder andere pöbelte ihn an, wünschte ihm den Tod, wechselte die Straßenseite. Doch dann gab es auch welche, die ihn erkanten und leise mit "Herr Professor" ansprachen und den Kopf nicht hängen zu lassen. "Nächstens haben sie doch abgewirtschaftet, die verfluchten Brüder", zitiert Klemperer einen mutigen Zeitgenossen, der mit solchen Worten sein Leben riskierte.

Die Ausgrenzung und Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich bekam drei Jahre nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze 1935 durch eine Verordnung über Familiennamen und Vornamen vom 17. August 1938 eine neue Dimension. Juden wurden neue Vornamen zudiktiert - Sara für Frauen, Israel für Männer. Von jetzt an waren sie ohne weiteres auch in Pässen, auf Namensschildern, Briefköpfen und bei anderen Gelegenheiten als Angehörige einer aus der "Volksgemeinschaft" ausgestoßenen Bevölkerungsgruppe zu erkennen. Ziel war es, Juden bereits durch ihren zweiten Vornamen zu Fremden im eigenen Land zu machen. Mit der Ausarbeitung der Verordnung war der damalige Ministerialrat im Reichsinnenministerium für Judenangelegenheiten zuständige Hans Globke befasst. Der Jurist und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze machte nach 1945 in der Regierung Adenauer Karriere und brachte es bis zum Staatssekretär und Chef des Bundeskanzleramts. Zeitgleich mit der Namensverordnung von 1938 schlug Propagandaminister Goebbels vor, dass die deutschen Juden eine Armbinde oder ein anderes Kennzeichen anlegen sollen, woraus der Judenstern wurde.

Abschiebung in die Ostgebiete

Um Wohnraum für "arische" Menschen zu schaffen, wurden Juden systematisch aus ihren Wohnungen und Häusern vertrieben und in so genannte Juden- oder Gettohäuser eingewiesen. Die Nürnberger Rassengesetze von 1935 bestimmten, wer Jude ersten und zweiten Grades ist und was unter privilegierten Mischehen zu verstehen ist. Nach der so genannten Reichskristallnacht am 9. November 1938 wurden Hausbesitzer zum Verkauf ihrer Immobilien weit unter Wert verpflichtet. Durch die Einweisung der Bewohner in Judenhäuser bekam die Gestapo noch bessere Möglichkeiten, die dort zusammengepferchten Menschen zu kontrollieren und sie für die "Abschiebung" in die Ostgebiete, das heißt für die Ermordung in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern, zu registrieren. Begründet wurden die Ausquartierung per Gesetz damit, dass es dem "Rechtsempfinden" nicht zuzumuten sei, wenn Deutsche im gleichen Haus mit Juden zusammenleben. Auch Klemperer wohnte in verschiedenen Dresdner Judenhäusern. Wie intensiv der Sprachforscher die Alltagssprache beobachtete, zeigt sich dort, wo er bemerkt, dass nach der Niederlage von Stalingrad im Lied "Es zittern die morschen Knochen" klammheimlich die Zeile "Denn heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt" in "Denn heute, da hört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt" umgedichtet und damit verharmlost wurde.

Nach 1945 befasste sich Klemperer mit seinen "angeschwollenen Tagebücher", nachdem er mit einer Berlinerin gesprochen hatte, die "wejen Ausdrücken", das heißt wegen Beleidigung des Führers und von NS-Symbolen, im Gefängnis saß. "Deswegen und daherum würde ich meine Arbeit am Tagebuch aufnehmen. Die Balancierstange würde ich aus der Masse des Übrigen herauslösen und nur eben die Hände mitskizzieren, die sie hielten. So ist dieses Buch zustande gekommen, aus Eitelkeit weniger, hoffe ich, als wejen Ausdrücken", fasst der Autor die Motive zusammen, sich mit der Sprache des Dritten Reiches zu befassen und über seine Forschungen nach der Befreiung zu publizieren.

23. September 2016

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