Erich Honecker, die verfolgte Unschuld
Ehemaliger Partei- und Staatschef leugnete den Schießbefehl und zeigte von sich auf andere / Dokumente belegen, dass Flüchtlinge auf Weisung von ganz oben getötet wurden



An der ehemaligen Grenzübergangsstelle Marienborn kann man sich ausführlich über
das immer mehr ausgebaute Grenzregime zwischen Ost und West informieren.



Wer sich der DDR-Grenze näherte, bekam es mit schwer bewaffneten, aufs Töten
eingeschworenen Soldaten zu. Dennoch haben todesmutige viele DDR-Bewohner
die Flucht in den Westen gewagt.



Witze an der Übergangsstelle Drewitz zu machen, war nicht ratsam. Wer auf
die Frage eines Grenzers "Haben Sie Waffen" mit kessem Ton antwortete
"Nee, brauchen Sie welche?" musste sich auf eine schikanöse
Durchsuchung gefasst machen.




Die Gedenkstätte Bernauer Straße ist ein vielbesuchter Gedenkort, an
dem auch der Toten an der Berliner und der innerdeutschen Mauer
erinnert wird. (Fotos/Repro: Caspar)

Nach dem Ende der DDR wurde von deren ehemaligen Führern die Existenz eines Befehls zum Töten von Flüchtlingen an der deutsch-deutschen Grenze vehement bestritten. Dabei gibt es eindeutige Dokumente wie den Befehl 76/61, der Wachen, Posten und Streifen der Grenztruppen verpflichtete, die Schusswaffe an der Staatsgrenze West und an der Ostseeküste zur Verhinderung von Fluchtversuchen nach dem Anruf "Halt - stehen bleiben - Grenzposten" oder/und nach Abgabe eines Warnschusses anzuwenden. Der nach dem Mauerbau am 13. August 1961 erlassene Schießbefehl wurde später durch Dienstvorschriften präzisiert. So befahl Verteidigungsminister Heinz Hoffmann 1963, die Grenzposten seien so aufzustellen, dass sie von vorn auf beabsichtigte Grenzverletzer in Fahrzeugen schießen können. Als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR erklärte SED- und Staatschef Erich Honecker im Mai 1974: "Erich Honecker forderte am 3. Mai 1974 auf der 45. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates: "Es muss angestrebt werden, dass Grenzdurchbrüche überhaupt nicht zugelassen werden […] überall muss ein einwandfreies Schussfeld gewährleistet werden […] nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen." Wenig später unterzeichnete Honecker die Schlussakte von Helsinki, in der sowohl die Unverletzlichkeit der Grenzen als auch unveräußerliche Menschenrechte festgeschrieben wurden. In der DDR wurde der immer wieder erneuerte Schießbefehl als Maßnahme begründet, "um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt", womit auch die Republikflucht gemeint war.

Verstockt und uneinsichtig

Von den vielen Grenzsoldaten, die die Tötung von Flüchtlingen an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze zu verantworten haben, wurden in den so genannten Mauerschützenprozessen nach der Wiedervereinigung 1990 nur wenige belangt. Die meisten Angeklagten kamen mangels an Beweisen davon. Einige Politbüromitglieder, darunter Egon Krenz und Günter Schabowski, wurden wegen ihrer Mitverantwortung für die Toten an der Mauer vor Gericht gestellt und zu Freiheitsstrafen verurteilt, die sie aber nicht vollständig absitzen mussten. Erich Honecker und sein Stasi-Minister Erich Mielke entgingen aus "gesundheitlichen Gründen" dem Gefängnis.

Der aus schwindelnder Höhe ins Aus gestützte Honecker und seine Frau Margot sahen sich nach ihrem Abgang aus der Politik als verfolgte Unschuld. Als das alle seiner Privilegien entkleidete Paar 1990 von den Buchautoren und Liedermachern Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg befragt wurde, gab es sich störrisch und uneinsichtig, manchmal auch zynisch und überheblich. Aus den stundenlangen Gesprächen, die nach Bekunden der Autoren die Fragen und Antworten so authentisch wie irgend möglich wiedergeben, entstand das Buch "Der Sturz - Honecker im Kreuzverhör" (Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1991, 455 Seiten, ISBN 3-351-02060-0). Dort nimmt der einstige erste Mann im zweiten deutschen Staat auch zum Schießbefehl Stellung, doch er tut das in einer Weise, die irgendwelche Einsichte in das Verbrecherische in dem Grenzregime und die Tötung und Verhaftung von so genannten Grenzverletzern und ihre Behandlung durch die Staatssicherheit und die DDR-Justiz vermissen lässt. So oder so ist das Buch, in dem Honecker zu Fragen der Innen- und Außenpolitik, zur Wirtschaft und Kultur sowie zum Verhältnis zur Sowjetunion und insbesondere zur Politik von Michail Gorbatschow spricht, ein interessantes Zeitdokument, bei dem es sich lohnt, Honeckers Auslassungen mit den historischen Fakten zu vergleichen und nachzuschauen, wie er mit ihnen umgegangen ist.

Der DDR-Schießbefehl habe sich durch nichts vom Schießbefehl des Bundessgrenzschutzes unterschieden, behauptete er. "Das ist im wesentlichen derselbe Befehl, und außerdem, war das nichts Geheimes. Es war im Grenzgesetz verankert, wie die Sicherung zu erfolgen hat. Todesschüsse, wie es sie in der BRD gab, waren bei uns überhaupt nicht eingeführt." Auf die Frage, ob es ihm leid tut, dass etwa 200 Menschen an der Mauer getötet wurden, antwortete der ehemals mächtigste Mann der DDR ungerührt: "Mir tun unsere 25 Genossen leid, die meuchlings an der Grenze ermordet wurden. Entsprechende Ersuche von uns an die damalige Regierung der Bundesrepublik, diese Leute an uns auszuliefern, wurden negativ beantwortet." Zu den wirtschaftlichen oder persönlichen Motiven, die viele Menschen in die Flucht getrieben haben und ob es verhältnismäßig war, sie mit der Waffe davon abzuhalten, sagte Honecker: "Ich will nichts dazu sagen. Wenn die DDR zugrunde geht, ich bitte Sie, was spielt das für eine Rolle? Es wird immer solche Leute geben. Natürlich hat mir das leid getan."

Andert und Herzberg wollten von Honecker wissen, ob ihm klar war, "dass für viele Menschen die Mauer eine moralische Bankrotterklärung des Sozialismus war, weil er anders die Menschen nicht halten konnte". Hier holte der ehemalige Spitzenfunktionär zu einer längeren Antwort aus. "Was heißt hier viele Menschen. Die Errichtung der Grenze war in der Zeit des kalten Krieges eine Notwendigkeit. Wir haben damit das Ausbluten der DDR gestoppt. Man muss sich wirklich an das halten, was im Beschluss der Teilnehmer des Warschauer Vertrages steht. Es war ja im Interesse der Gewährleistung des Friedens und der Sicherung des sozialistischen Aufbaus. […] Man hat zwar der Sowjetunion Aggressionsabsichten untergeschoben gegen den Westen, aber zugleich hat man sogar den Einsatz der Atombombe geplant. Aber die westlichen Leute konnten hier einreisen."

Leugnung trotz klarer Beweise

Nach dem Mauerbau im August 1961 wurde der Schießbefehl gegen "Grenzverletzer" sagte in einer Lagebesprechung des vom Politbüro eingesetzten "Zentralen Stabes" am 20. September 1961 der Leiter dieses Stabes, Erich Honecker: "Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden. Es sind solche Maßnahmen zu treffen, daß Verbrecher in der 100-m-Sperrzone gestellt werden können. Beobachtungs- und Schussfeld ist in der Sperrzone zu schaffen." Seit dem 6. Oktober 1961 gab es einen Befehl des damaligen DDR-Verteidigungsministers Armeegeneral Heinz Hoffmann, der die Grenztruppen der DDR verpflichtete, die Schusswaffe nach Zuruf und Warnschuss sofort scharf anzuwenden und Flüchtende zu vernichten, wenn sie nicht auf andere Weise festzunehmen sind. In einer auch filmisch festgehaltenen Rede erklärte Hoffmann im August 1964 unmissverständlich: "Wer unsere Grenze nicht respektiert, der bekommt die Kugel zu spüren." Soldaten, die durch das Erschießen von Flüchtlingen Grenzdurchbrüche verhindert hatten, wurden belobigt, erhielten Sonderurlaub und Geldprämien.

Im Jahr 1993 wurde von der Stasi-Unterlagenbehörde ein Schießbefehl auch gegen Frauen und Kinder gefunden. Diese Dienstanweisung vom 3. Dezember 1974 galt für die Einsatzkompanie der Stasi-Hauptabteilung I "NVA und Grenztruppen". Aufgabe der hochgeheimen Spezialeinheit bestand darin, Fahnenfluchten in den regulären Grenztruppen-Einheiten zu verhindern. Zwischen 1971 und 1974 waren 144 Grenzer in den Westen geflohen, insgesamt könnten es etwa 2800 gewesen sein. Obwohl die bei den Grenztruppen dienenden Soldaten genau ausgesucht und überprüft waren, kam es wieder zu Fluchtversuchen, von denen manche erfolgreich waren, andere aber tragisch endeten. Kenner sehen in dem Dokument keinen Befehl, der sich an die Grenzsoldaten richtete, sondern einen Befehl an eine besondere Stasi-Einheit, die die Fahnenflucht von Soldaten mit allen Mitteln verhindern sollte. Sprache und Ziel stimmen mit allen anderen Dokumenten überein, mit denen das Schießen an der Grenze rund um Berlin und zwischen beiden deutschen Staaten geregelt wurde. Ständig mit dem Grenzregime und Fluchten konfrontiert, hat Honecker alles gewusst und gedeckt, und so verwundert es, dass er sich in dem erwähnten Buch und bei anderen Gelegenheiten als unwissend ausgab. Auch Egon Krenz, für wenige Tage der Nachfolger von Honecker als SED-Chef, Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender der Nationalen Verteidigungsrat, leugnete vehement war, die Existenz der Schießbefehle: "Es hat einen Tötungsbefehl, oder wie Sie es nennen ‚Schießbefehl', nicht gegeben. Das weiß ich nicht aus Akten, das weiß ich aus eigenem Erleben. So ein Befehl hätte den Gesetzen der DDR auch widersprochen."

16. November 2016

Überschriften, Text -->

Zurück zur Themenübersicht "Berlin und das Land Brandenburg"