Otto der Faule war Liebling aller Schüler
Anno 1901 mussten Berliner Gymnasiasten über die Beinstellung der Figuren auf der Siegesallee fabulieren, und Kaiser Wilhelm II. war beeindruckt



Schweine und andere Tiere tummeln sich auf der "Siegesallee der
Landwirtschaft". Was Wilhelm II. von solcher Verballhornung hielt, ist nicht überliefert.




Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Trümmer der Siegesallee im Garten
des Schlosses Bellevue, einer uralten Tradition folgend, 1954 vergraben
und 1978 wieder ans Tageslicht geholt.



Die kaiserliche Hand setzt auf der Karikatur von Thomas Theodor Heine
Figuren auf die Bänke der Siegesallee, durch die Soldaten marschieren.




Lange fanden die Denkmäler in einem alten Berliner Wasserwerk Asyl,
und nur an wenigen Tagen hatten Besucher Gelegenheit, die Monumente zu besichtigen.




Bei keiner dieser Figuren konnten sich die Bildhauer auf authentische
Porträts beziehen, weshalb sie ihrer Fantasie freien Lauf ließen.
Nur bei Kostümen und Accessoires war man peinlich genau. (Repros/Fotos: Caspar)

Ein Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin, Prof. Dr. Otto Schroeder (1851-1937), kam im Frühjahr 1901 auf die ungewöhnliche Idee, seine Schüler einen Hausaufsatz über "Die Beinstellung der Denkmäler in der Siegesallee" schreiben zu lassen. Niederschriften von vier Oberprimanern gelangten auf verschlungenen Pfaden unter die Augen von Kaiser Wilhelm II., des Stifters der mit Standbildern brandenburgisch-preußischer Herrscher versehenen Ruhmes-straße ganz aus Marmor im Berliner Tiergarten. Zu sehen sind die seit Jahrzehnten den Blicken der Öffentlichkeit entzogenen Marmorskulpturen seit April 2016 in einem ehemaligen Proviantmagazin auf der Spandauer Zitadelle (siehe Beitrag auf dieser Internetseite/Berlin).

Der wegen seiner üppigen Denkmalstiftungen mit dem Spitznamen "Denkmalwilly" belegte Mo-narch las die naiven Aufzeichnungen der Schüler mit Wohlgefallen, zensierte sie noch einmal und versah sie mit Randbemerkungen, als ob es sich um Berichte des Reichskanzlers, Depeschen deutscher Botschafter und andere Staatsdokumente handelte. Hofbeamte bekamen Wind von der eigenartigen Freizeitbeschäftigung ihres Herrn, die Presse griff den Vorgang auf, um den sich schnell Legenden bildeten. Am Joachimsthalschen Gymnasium wurden die durch Kaisers Hand "veredelten" Hefte als Reliquien archiviert. Wenigstens bis 1945 sollen sich die Originale im noch Schularchiv befunden haben. Sicherheitshalber wurden von den Aufsätzen Faksimiles angefertigt und dem Hohenzollern-Museum in Berlin, einer hochkarätigen Sammlung von Erinnerungsstücken aus der Geschichte des brandenburgisch-preußischen Herrscherhauses, als Andenken übergeben. Um unnötiges Aufsehen zu vermeiden und den Kaiser vor missgünstigen Kommentaren zu schützen, erging an Museumsdirektor Paul Seidel die Anweisung, die Nachbildungen sicher vor unbefugten Blicken zu schützen, hoffend, dass man "die Sache" nach Jahrzehnten milder beurteilt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg im Merseburger Zentralarchiv wiederentdeckt, wurden die Aufsät-ze 1960 von Rudolf Herrnstadt unter dem Pseudonym R. E. Hardt publiziert. Auf seine Rehabilitierung hoffend, versah der 1953 im Zusammenhang mit dem Volksaufstand vom 17. Juni bei der SED-Führung in Ungnade gefallene ehemalige Chefredakteur des Parteiorgans "Neues Deutschland" sein Pamphlet mit ätzenden Kommentaren, die ganze Verkommenheit des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates und Gefährlichkeit des Imperialismus und Militarismus hervorhebend. Welche politische Tendenz die Edition hatte, mit der der Ostberliner Verlag Rütten & Loening die neue Buchreihe "Geschichte in der Tasche" eröffnete, mag ein jenem Beine-Buch beigelegtes Werbeblatt illustrieren: "Der gesunde Menschenverstand würde sich weigern es zu glauben, wenn es nicht dokumentarisch belegt wäre: im Jahre 1901 stellte ein Oberlehrer des Joachimsthaler Gymnasiums in Berlin seinen Primanern das Aufsatzthema ,Die Beinstellung der Standbilder in der Siegesallee'. Wilhelm II. ließ sich die Aufsätze vorlegen, zensierte sie und versah sie mit Randbemerkungen. Ein Vorgang, würdig der Beschreibung durch die Feder eines Satirikers. Wie R. E. Hardt mit tödlicher Ironie diesen Vorgang zu einer wahrhaftigen historischen Groteske gestaltet, wie er gleichsam den Humus zutage fördert, aus dem ,solche Blüten wachsen wie dieser Oberlehrer und diese Primaner, diese Schule und diese Denkmäler' . Das macht die Geschichte von den Beinen der Hohenzollern für den erheiterten Leser zu einer Geschichte mit tiefer Moral".

Viel Lob und viel Tadel

Aus der Beinstellung auf den Adel des Geistes zu schließen, stellte der in die Provinz abgeschobene, in kümmerlichen Verhältnissen als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentralen Staatsarchivs der DDR in Merseburg tätige Herrnstadt fest, sei nicht nur originell, sondern auch wegweisend. "Wenn nämlich der Untertan das Gottesgnadentum der Hohenzollern schon in den Knien und Schienbeinen entdeckte - was musste sein entzückter Blick erst wahrnehmen, glitt er weiter aufwärts über die Hüften, die Ellenbogen, die kaiserlichen Ohren? Dass nicht das ganze Ensemble der gekrönten Körperlichkeit der Analyse unterworfen wurde, war denn auch Wilhelms einziger Einwand." In der Tat hielten sich die Gymnasiasten genau an das Thema und vermieden, ihren kritischen Blick auf die obere Körperhälfte der auf der Siegesallee posierenden Helden zu richten. Dass diese in vielen Fällen alles andere als Zierden der Menschheit waren, hatte der Lehrer ohnehin nicht zum Thema der Aufsätze gemacht. Lediglich die linke Presse, in der so genannte vaterlandslose Gesellen das Wort führten, wurde erörtert, welch zwielichtige Gestalten der Kaiser auf die Siegesallee stellen ließ. Da tat es dem Monarchen offenbar gut, dass brave Schüler von Waden, Knien und Beinen deren Verdienste um Gott und Monarchie ableiteten.

Als nach dem Fall der Mauer (1989) die in Westberlin gelegenen Originalschauplätze und die in einem Lapidarium untergestellten Figurenreste für Ostberliner und DDR-Bewohner wieder zugänglich waren, habe ich die Schüleraufsätze 1990, 2001 und noch einmal 2007 ediert und sie auch mit Texten über das Joachimsthalsche Gymnasium und den Altphilologen Schröder versehen. Berichtet wird auch über Versuche Wilhelms II. gestellt, die Reichshauptstadt durch eine Serie von mehr oder gelungenen Denkmälern zu verschönern und sich damit als Mäzen darzustellen, der in der Tradition des Großen Kurfürsten, Friedrichs II. und anderer Monarchen steht. Umfassend wurde die wechselvolle Geschichte der nach dem Zweiten Weltkrieg abgebrochenen, jedoch in stattlichen Resten erhaltenen Ahnengalerie in dem Buch von Uta Lehnert "Der Kaiser und die Siegesallee - Réclame Royale" (1998) gewürdigt, wobei sie die Schüleraufsätze im Zusammenhang mit der Wirkungsgeschichte der Ruhmesstraße nur am Rande erwähnt. Auch Jan von Flockens Buch "Die Siegesallee - Auf den Spuren Brandenburgisch-Preußischer Geschich-te" (2000) streift die Schüleraufsätze nur als Kuriosa und zeigt am Beispiel der Wirkungsgeschichte nach 1945, dass sich ganz unterschiedliche Parteien im Verdikt über die Ruhmesstraße einig waren: "Kommunisten interpretierten die Siegesallee als Werk talentloser Klassenfeinde - Modernisten im Westen diffamierten sie als Auswuchs reaktionärer Epigonen. Beide Seiten behaupten unisono, hier handle es sich nicht um Kunst". Ob das Urteil zutrifft oder überzogen ist, kann man bei einem Besuch der Ausstellung "Enthüllt" in der Spandauer Zitadelle entscheiden.

Das besondere Jahr 1901

Beim Lesen der in den neunziger Jahren aus dem DDR-Zentralarchiv in Merseburg (Sachsen-Anhalt) ins Geheime Staatsarchiv Berlin-Dahlem zurückgekehrten Aufsatz-Kopien sollte gegen-wärtig sein, dass 1901 kein beliebiges Jahr war. Es wurde in Preußen als Jubeljahr gefeiert. Zufällig war es auch das Jahr, in dem die Siegesallee vollendet und mit einer spektakulären Rede des Kaisers in den Rang von Kunstwerken gehoben, die den Vergleich mit Meisterwerken der Renaissance nicht scheuen müssen. Man gedachte 1901 der "Erhebung" des Kurfürsten von Brandenburg, Friedrich III., zweihundert Jahre zuvor zum König "in" Preußen. Der Staatsakt fand am 18. Januar 1701 in Königsberg statt, 160 Jahre später erfolgte am gleichen Ort die Krönung Kö-nig Wilhelms I., ab 1871 Kaiser Wilhelm I., und seiner Gemahlin. Beide Ereignisse waren Anlass für zahlreiche Festlichkeiten, verbunden mit Denkmalweihen und opulenten Bildbänden, ja selbst mit der Herausgabe von Gedenkmünzen und Medaillen, über deren Gestaltung Wilhelm II. höchstpersönlich wachte. Mag sein, dass sich Otto Schröder von solchen Festgaben inspirieren ließ, als er seine Primaner mit dem, wie eine Zeitung schrieb, "burlesken" Thema vor eine nicht zu schaffende Aufgabe stellte, die Beinstellung der Figuren auf der Siegesallee zu beschreiben und zu interpretieren.

Mit der prunkvollen Skulpturengalerie wollte der kaiserliche Stifter deutlich machen, dass sich Brandenburg-Preußen dank seiner Fürsten von einem unbedeutenden Fleck auf der Landkarte, der als "Streusandbüchse" des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation verlachten Mark-grafschaft Brandenburg, zum mächtigsten deutschen Staat entwickelt hat und das Deutsche Reich unter Führung der Hohenzollern zu imperialer Größe emporwächst. Solche Ahnengalerien waren nichts Ungewöhnliches, dergleichen gab es in der deutschen Geschichte immer wieder, und auch im Berliner Schloss standen, stumm und steif, antike Cäsaren aufgereiht neben mittelalterlichen und neuzeitlichen Fürsten. Ihr Anblick wärmte die Seele und steigerte das eigene Ansehen. Hinter der Alleenstiftung steckten eine politische Anliegen und ein erzieherischer Auftrag. Dazu heißt es im Entwurf zu einem Erlass des Kaisers gebieterisch: "Ich erwarte, dass die Bürgerschaft Berlins dieses Mein Geschenk allezeit in Ehren halten wird und noch zukünftige Geschlechter sich beim Anblicke der Männer aus vergangener Zeit gegenwärtig halten werden, was sie Thron und Vaterland an Treue und Aufopferung schuldig sind". Möglicherweise hat der Monarch erkannt, dass seine Forderung doch sehr anmaßend gegenüber den "lieben Berlinern" klingen und sie vielleicht gegen das Ehrengeschenk aufbringen würde. Jedenfalls kommt das Ansinnen in dem dann veröffentlichten Erlass nicht mehr vor, wohl aber war es ein Grundsatz, um den die Gedanken des Kaisers kreisten.

Befragte Geschichtsquellen

Natürlich wurde das Vorhaben auch von den Berliner Bildhauern begrüßt, die neue Betätigungsfelder und Einnahmequellen witterten. Sie nahmen in Kauf, dass sich Wilhelm II. als Initiator des Projekts und Geldgeber vorbehielt, die Künstler auszuwählen und ihnen gestalterische Details vorzuschreiben. Der Präsident der Akademie der Künste, Anton von Werner, bemerkte, der Kaiser werde sich "unerbetene Vorschläge sehr verbitten", was von diesem auf einem diesbezüglichen Brief mit "bravo! sehr richtig" quittiert wurde. Ähnliche Randbemerkungen finden sich auch in den ihm vorgelegten Schüleraufsätzen zum Thema Siegesallee.

In kaiserlichem Auftrag befragte der Direktor des Geheimen Staatsarchivs, Prof. Dr. Reinhold Koser, die Geschichtsquellen, die, wie sich bald herausstellte, hinsichtlich des Aussehens den mittelalterlichen Herrscher wenig hergaben. Dem Kaiser unterbreitete der Hofhistoriograph eine lange Liste von Gestalten, die sich als Assistenzfiguren für die 33 Fürstenstandbilder auf 32 Sockeln eignen würden. Vieles unterlag bei der Auswahl dem Zufall. Manchmal entschied die häufige Nennung eines Ritters oder eines Geistlichen in uralten Urkunden und Chroniken darüber, ob seine Büste zu Füßen dieses Markgrafen oder jenes Kurfürsten aufgestellt wurde. Zwar lieferten alte Grabmäler, Miniaturen, Stiche sowie erhalten gebliebene Kleidungsstücke und Rüstungen gewisse Anhaltspunkte darüber, wie ein mittelalterlicher Herrscher, Höfling oder Gottesmann aussah und was er trug. Hinsichtlich der Gestalt und des Gesichts aber tappte man vielfach im Dunkeln. Wie mag dieser Markgraf oder Kurfürst oder jener Offizier tatsächlich ausgesehen haben, war er dick oder dünn, hatte er eine Adlernase und eingefallene Wangen oder war er von feister Gestalt? Alles ungeklärte Fragen, bei deren Bewältigung die Bildhauer vor schier unlösbaren Gestaltungsproblemen standen.

Drastisch hat der Schöpfer der Denkmalsanlage für Albrecht den Bären, Walter Schott, sein Dilemma beschrieben. "Da von Otto von Bamberg sowohl wie von Wiger von Brandenburg (den beiden Begleitfiguren, H. C.) gar nichts, von Albrecht dem Bären nur ein Siegel existierte, das ebenso gut ein Pfund Wurst wie ein Gesicht darstellen konnte, so habe ich bei Albrecht dem Bären ein ganz klein bisschen in den Spiegel geguckt und meinen Kopf verwandt. Von Wiger von Brandenburg hatte ich mir die Vorstellung gemacht, dass es ein ganz magerer, halbverhungerter Priester gewesen sein musste, da ja schon der Name so trocken und hart klingt und es in der Mark Brandenburg auch nicht so viel zu essen gegeben hat. Da der Name Otto von Bamberg schon so behäbig und rund klingt, er auch im Erzbistum Bamberg eine gute Futterkrippe gehabt, habe ich mir von diesem die Vorstellung gebildet, dass er sehr behäbig und rund ausgesehen ha-ben müsse". Schott suchte per Annonce nach einem Modell gesucht, berichtete Schott weiter, und als er eines Tages nach einem Spaziergang nach Hause kam, sei er überrascht gewesen, dreißig bis vierzig teilweise mit Zylindern bewaffnete Menschen vor seiner Ateliertür warten zu sehen, "so dass es aussah, als kämen die Leute zu meinem Begräbnis". "Als ich ,im Bild' war, such-te ich mir zwei passende Gestalten aus, für den Bamberger eine dicken Kölner Küfer, der seine Tage in Berlin beschließen wollte, und für den Brandenburger Bischof einen märkischen Fischer, einen reizenden alten Mann." Wenn er die beiden Büsten ansehe, so glaube er sagen zu können, dass es ihm gelungen sei, "zwei glaubwürdige Gestalten geschaffen zu haben". Laut Schott soll sich der Kaiser über die Episode amüsiert haben.

Nebenbei gesagt hat es Koser verstanden, einige seiner Vorgänger, wenn man so sagen will, im Amt der Hofhistoriographen auf den Bänken zu platzieren. Dahinter steckte wohl sein Bedürfnis zu zeigen, dass brandenburgisch-preußische Geschichte nicht nur aus Raubrittern und Feldmarschällen bestand, sondern auch Gelehrte und Künstler Anteil am Aufstieg des Landes hatten. In der Zeit bürgerlicher Emanzipation und erwachenden Selbstbewusstseins in bürgerlichen Schichten war es wichtig, diese Erkenntnis auch durch Darstellung geeigneter Personen Ausdruck zu verleihen.

Panoptikum wie aus Zuckerguss

Wie sich am Beispiel der Siegesallee zeigt, ging man außerhalb des höfischen Dunstkreises mit den Resultaten kaiserlicher Bau-, Denkmal- und Kunstpolitik nicht gerade fein um. Der bekannte Architekturkritiker Karl Scheffler ließ sich in seinem Buch "Moderne Baukunst" (1907) mit Blick auf die Siegesallee zu folgendem Verdikt hinreißen: "Goethe forderte, der Schauspieler solle beim bildenden Künstler in die Leere gehen, jetzt ist es umgekehrt. Malerisch drapierte Mäntel, kühne Helmsilhouetten, gebietende Armbewegungen, protzige Schlächterdarstellungen, bohrende Blicke, Kostümexegesen vom Bärenfell zum Hermelinmantel, Kronen, Kanonierstiefel, kurz Panoptikum. Alles hübsch der Ordnung gemäß; ein Hosenlatz ist so ausführlich behandelt wie ein Au-ge, ein Panzerhemd ist so wichtig wie ein Kopf. Nicht einer, vielleicht mit Ausnahme von Begas und Brütt, hatte eine Ahnung, wie eine Büste mit dem Postament und dieses mit der Bank organisch zu verbinden sind. Einer sägt unter den Armen den Leib durch und stülpt das Fragment auf einen vierkantigen Pfahl und ein anderer komponiert die Hermenform individualistisch um". Scheffler war überzeugt, jeder bessere Stuckateurgehilfe könne besser die Hauptpostamente mit den Säulchen, Kartuschen und ornamentalen Bändern geschickter disponieren, und wie sich die Eulen, Gänse, Schwäne und Adler zeigten, das spotte jeder Beschreibung. Zu den Ornamenten sagte er, mit romanischen Motiven fange es an, mit klassizistischen höre es auf. Der ganze Kreislauf, den das Kunstgewerbe der letzten dreißig Jahre gemacht hat, hier sei ihm ein bleibendes Denkmal gesetzt. "Das ist keine Technik, sondern Maschinenarbeit, nicht Marmor, sondern Zuckerguss. Diese ganze geschichtlich dozierende Plastik ist nicht in einer Linie persönlich; kaum eine Form ist recht verstanden, keine Silhouette schön: patriotische, schauderhaft verstimmte Blechmusik". Ohne dass der Kaiser als spiritus rector genannt werden konnte, wenigstens nicht als er noch an der Macht war, richtete sich die Kritik vor allem an seine Adresse. Wo etwas verunglückt war, wurde es dem Monarchen angelastet, der ja die Bildhauer ausgewählt hatte und mit kräftigem Bleistiftstrich die Entwürfen zu korrigieren pflegte, so wie er es 1901 in den harmlosen Schülerheften auch tat. Der Kaiser, von der Siegesallee begeistert, wusste Kritik auf die ausführenden Künstler zu lenken, und diese wiederum schoben den schwarzen Peter jenen italienischen Steinhandwerkern zu, die ihnen die Marmorblöcke vorbereitet hatten.

Lustig machten sich die Berliner über den aus Bayern stammenden Markgrafen Otto VII., genannt der Faule, der im 14. Jahrhundert für ein paar Jahre mehr schlecht als recht die Geschicke im Land Brandenburg bestimmte. In der Kaiserzeit avancierte der Wittelsbacher zum Liebling der Berliner. Der Markgraf stand, vom Bildhauer Adolf Brütt Marmor geformt und 1899 enthüllt, auf der Berliner Siegesallee und war ein beliebtes Ziel vor allem von Schülerspott. Eigentlich passte Otto der Faule nicht in die marmorne Heldenallee, die Wilhelm II. im Tiergarten zwischen Kemperplatz und Reichstagsgebäude hatte errichten lassen. Mit seinen herunterhängenden Augenlidern, "blödem Gesicht" und schlaffen Waden war der Markgraf eigentlich unwürdig, neben großartigen Monarchen mit strammen Waden und festem Auftreten auf der Ruhmesstraße zu repräsentieren. Da aber der kaiserliche Stifter Vollständig bei seinen Vorgängern auf dem brandenburgischen und preußischen Thron befohlen hatte, musste auch Otto der Faule auf den Denkmalsockel steigen.

Marmorne Karikatur

Die Gedankenspiele und Witze rund um den Bayern basieren auf dem ihm erst später angedich-teten lateinischen Beinamen Otto ignavus, was so viel heißt wie Otto der Faule oder der Träge. Nach einer anderen Deutung aber soll der Schwiegersohn Kaiser Karls IV. eine Hautkrankheit gehabt haben, was ihm einen anderen Beinamen verschaffte, nämlich "der Faulige oder der Finnige". Mag sein, dass Otto aufgrund der menschlichen oder medizinischen Unzulänglichkeiten seiner Zeit, aber auch aus wirtschaftlichen und politischen Gründen in seiner Handlungsfähigkeit beeinträchtigt war. Wie aber ein Blick in die Historie zeigt, war er keineswegs "faul" im herkömmlichen Sinne, etwa wie ein Schüler, der seine Hausaufgaben nicht ordentlich erledigt. Vielmehr war der Lebemann ziemlich gewitzt, weil er sich aus Brandenburg zurückzog als er sah, dass er gegen die Übermacht seines zur Herrschaft in der Mark drängenden Schwiegervaters Kaiser Karl IV. nichts ausrichten konnte. Sein volkstümlicher Beiname könnte damit zusammenhängen, dass er sich nach seiner mit einer hohen Abfindungssumme von 500 000 Goldgulden verbundenen Abdankung ein bequemes, man könnte auch sagen faules Leben gönnte. Dieses währte allerdings nicht lange, denn Otto starb schon mit 30 Jahren.

Markgraf Ottos Denkmal, auf dessen Sockel der ehrenrührige Beiname ausdrücklich erwähnt wird, stellt einen durch Nichtstun gealterten Mann in leicht gebeugter Körperhaltung dar, und so lautete die Botschaft an die Betrachter denn auch: Seht her, so werdet ihr aussehen, wenn ihr faul, träge und schlafend wertvolle Zeit vertut. Der Öffentlichkeit entging nicht die marmorne Karikatur des aus dem Haus Wittelsbach, also aus Bayern stammenden Landesfürsten. In Münchner Blättern erblickte man denn auch in seinem besonders dämlichen Gesichtsausdruck eine spezifisch preußische Perfidie. Wenn der Wittelsbacher wirklich so ausgesehen hat, könne das nur mit seinem Aufenthalt in Norddeutschland zusammenhängen, kommentierten preußenfeindliche Witzbolde das Brütt'sche Werk.

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