Eins ins andere, für jeden etwas
Unzählige Tages- und Wochenzeitungen wurden früher in der Berliner Friedrichstadt produziert



Die Berlinische Privilegierte Zeitung wurde 1743 gegründet und
stellt bis heute eine interessante Quelle über das Leben
in der Haupt- und Residenzstadt, in Preußen und der Welt dar.





Pressezensur war und ist bis heute ein großes Thema. Wie Zeitungen
und Journalisten unter Druck gesetzt und geknebelt wurden, schildern die
Karikaturen aus der Kaiserzeit und der Weimarer Republik.






Das "Zukunftsbild von den preußischen Bahnhöfen" schildert, von Eduard Thöny
gezeichnet, welchen Schund Zeitungsverkäufer unter die Leute zu bringen
versuchen. Die Karikatur darunter stammt von Heinrich Zille und setzt
ebenfalls der Presse im kaiserlichen Deutschland ein zweifelhaftes Denkmal.
(Repros: Caspar)

Vor hundert Jahren waren die Verlage, Redaktionen und Druckereien bedeutender Zeitungen und Wochenblätter in der Berliner Friedrichstadt konzentriert. Was im Berliner Zeitungsviertel gedruckt wurde, bediente guten und schlechten Geschmack. An der Charlottenstraße/Ecke Zimmerstraße etablierte sich das Wolffsche Telegraphen-Büro, in seiner Nähe hatte sich der Verleger Leopold Ullstein eingerichtet. 1881 bezog er das Haus Kochstraße 23, wo das Neue Berliner Tageblatt sowie die Berliner Zeitung, Berliner Abendpost, Berliner Morgenpost, B. Z. am Mittag und weitere renommierte Blätter erschienen. Auch die mächtigen Zeitungsverleger Rudolf Mosse und August Scherl fanden an der Gegend nicht weit vom kaiserlichen Schloss sowie den Ministe-rien entlang der Wilhelmstraße Gefallen.

Um 1900 kamen in Berlin und seiner näheren Umgebung nach dem Moto "Eins ins andere, für jeden etwas" 744 Zeitungen und Zeitschriften heraus, was auf einen beachtlichen Bildungs- und Informationshunger der Bevölkerung und einen großen Markt deutet. Die enorme Zahl gliederte sich in 67 amtliche, 62 politische, 40 religiöse Blätter, hinzu kamen 206 Kultur- und Wissenschaftsjournale sowie 264 Zeitungen speziell für Wirtschaft, Handel und Landwirtschaft. Verbreitet wurden sie durch das Postzeitungsamt in der Dessauer Straße, das täglich über 200 Millionen Ausgaben auf den Weg brachte. Der große Rest wurde marktschreierisch auf der Straße verkauft. Neue Technik wie die Telegraphie und das Telefon beschleunigten die Nachrichtenübermittlung und -verbreitung. Um zu verhindern, dass unliebsame Informationen in die Presse kommen, hielt die Reichsregierung ein wachsames Auge auf sie. So wurden die haarsträubenden Reden Wilhelms II. ebenso zensiert und frisiert wie Meldungen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Inhalts, die dem Ansehen des Reiches hätten schaden können.

Quellen über unser Woher und Wohin

In der Kaiserzeit gab es neben seriösen Zeitungen, die sich in ihrer Berichterstattung um Objektivität und Überparteilichkeit bemühten, auch gewisse "Revolverblätter" von minderer Qualität, aber weiter Verbreitung. Kaisertreue und nationalistische Zeitungen verfolgten einen alldeutschen Kurs, der dem Reich ein "Platz an der Sonne" verschafft werden sollte, wie Wilhelm II. zu sagen pflegte. Wichtig war für alle Blätter gleich welcher Grundhaltung, möglichst viele Abonnenten zu gewinnen, doch spielte auch der durch sensationelle Schlagzeilen angeheizte Verkauf durch Straßenhändler und am Kiosk eine große Rolle. Beliebte Themen waren Mord und Totschlag, Krieg und Frieden, Hofnachrichten, Wirtschaftsmeldungen, Sport, Theateraufführungen, Skandale, Klatsch und Tratsch über die "oberen Zehntausend", Unfälle aller Art und Schiffsunglücke, Naturerscheinungen und Erfindungen, kurzum alles das, was auch heute noch interessiert ist und Kasse macht. Obwohl alle diese Zeitungen nur für den Tag und zum alsbaldigen Verbrauch bestimmt waren, bilden sie bis heute für Historiker, Journalisten und andere Interessierte interessante, oftmals einzigartige Quellen, um über unser Woher und Wohin besser Bescheid zu wissen und zu erkennen, dass früher nicht alles besser war und sich vieles wiederholt, wenn auch unter anderen Vorzeichen und bunter verpackt.

Die Berliner Morgenpost aus dem Ullstein-Verlag konnte sich damals über 400 000 Abonnenten freuen, darunter 300 000 in der Reichshauptstadt. 150 000 Exemplare wurden von der BZ am Mittag und eine Million von der Berliner Illustrirten Zeitung verkauft, die sich grundsätzlich ohne "ie" schrieb. Ähnlich stattliche Auflagen erreichten die Berliner Allgemeine Zeitung, die Berliner Abendpost und die traditionsreiche Vossische Zeitung. Fortsetzungsromane. Rätsel und immer neue Sensationsmeldungen banden die Leser an ihre Tages- und Wochenzeitungen. Doch vieles war minderwertige Ware, die sich schon am nächsten Tag nur noch zum Einwickeln von Fischen eignete. Über die im Verlag von August Scherl erscheinende Zeitung Die Woche heißt es in einer zeitgenössischen Kritik, es brauchte wirklich kein Milligramm eigenen Geistes mehr, "um die Ware dieser ,Woche' zu kauen und zu verschlucken, vom Verdauen konnte man ja nicht reden, denn zu verdauen war da nichts. Brauchte auch nicht zu sein, denn der angenehme Reiz im Munde genügte ja. War es dem Leser doch so, als erführe man Wissenswertes von allem Möglichen, was geschah, während man in Wahrheit unter allem Möglichen nur das Allergleichgültigste erfuhr." Der niederländische Dramatiker Herman Hejermans, der als Heinz Sperber für die sozial-demokratische Presse schrieb, blickte in die Zukunft und schaut von der Warte des Jahres 1960, was so alles 1910 gedruckt wurde. Er fand, dass über die Eröffnung eines neuen Luxuslokals oder Essen und Trinken bei reichen Leuten ausführlicher berichtet wurde als über ein Grubenunglück in den USA mit 200 Toten oder die Entlassung von Arbeitern "weil eine momentane Überproduktion in der Industrie herrscht". Diejenigen, die unter erbärmlichen Umständen jenen Luxus schaffen, über den in den Boulevardblättern seitenlang berichtet wird, "heißen nicht Helden, nicht vortreffliche Menschen, sie nennt man Vaterlandsverräter, unzufriedenes Gesindel, Ausschuss, wofür die Maschinengewehre noch zu gut sind".

Renommierte Autoren

Der jüdische Verlagsgründer Leopold Ullstein hatte seine Karriere im Revolutionsjahr 1848 in Berlin als Papierhändler begonnen. Da er sich nicht mit unbedrucktem Papier abgeben wollte, trachte er, es in Form von Zeitungen sinnvoller zu nutzen. Durch Kauf der Deutschen Union, aus der schon bald die Berliner Zeitung hervorging, sowie Herausgabe der Berliner Abendpost und der Berliner Morgenpost schuf er die Grundlage für sein Zeitungsimperium. Ullsteins Blätter bildeten einen Gegenpol zur konservativen Presse. Wegen der harschen Kritik an den herrschenden Verhältnissen waren sie auch in Prozesse wegen Majestätsbeleidigung verwickelt. Dem Berli-ner Militär wurde sogar untersagt, liberale Blätter, allen voran die Berliner Zeitung, zu abonnieren und zu lesen. Natürlich hat das nicht viel genutzt, im Gegenteil vergrößerten die Verbote die Popularität der als missliebig eingestuften Zeitungen. Renommierte Autoren wie Alfred Kerr und Theodor Wolff verhalfen schon früh den in hohen Auflagen gedruckten Zeitungen aus dem Hause Ullstein zu Ansehen. Indem sich das Blatt intensiv um seine Leser kümmerte und durch Umfragen und Diskussionen die wichtige Bindung zwischen Lesern und Zeitung stärkte, eroberte sie sich hohe Marktanteile. Dass die Morgenpost auch naturwissenschaftliche Bildung verbreitete, stärkte ihr Ansehen. Nach dem Tod von Leopold Ullstein im Jahr 1899 entwickelte sich der Verlag unter der Leitung seiner Söhne zum größten Medienunternehmen in Europa. Mit der Schaffung der B. Z. am Mittag entstand 1904 das erste Boulevardblatt Deutschlands. Großen Erfolg hatte auch die mit vielen Fotos und Zeichnungen, Reportagen und Fortsetzungsromanen bestückte Berliner Illustrirte Zeitung. Bekannte Autoren wie Arthur Schnitzler und Gerhart Hauptmann sowie Ricarda Huch schrieben für das beliebte Journal.

Die 1927 erstmals gedruckte Grüne Post war als Sonntagszeitung zunächst für Leute auf dem Lande bestimmt, eroberte sich aber auch in den Städten eine große Leserschar und erreichte eine Millionenauflage. Weitere Blätter des Hauses Ullstein wandten sich speziell an Frauen und Kinder. Ein wichtiger Zugang gelang durch Übernahme der Vossischen Zeitung. Im Jahre 1704 als Berlinische Ordinaire Zeitung gegründet und 1751 von dem Buchhändler Christian Friedrich Voss übernommen, besaß sie den Ruf, besonders seriös und ausgewogen zu berichten. 1934 musste die "Tante Voss", für die auch Theodor Fontane geschrieben hatte, auf Druck der Nazis ihr Erscheinen einstellen. Der Verlag wurde gleichgeschaltet und arisiert, wie man die Enteignung der jüdischen Besitzer umschrieb. Seine Besitzer mussten sich von ihm für einen Spottpreis trennen. Als "Deutscher Verlag" lebte das Unternehmen unter der Aufsicht des Reichspropagandaministeriums weiter. Ein U-Bahnhof, eine Straße und das Ullsteinhaus im Ber-liner Ortsteil Mariendorf tragen den Namen des Traditionsverlags.

Die Kochstraße und weitere ehemals dicht bebaute Areale des früheren Zeitungsviertels wurden im Zweiten Weltkrieg fast dem Erdboden gleich gemacht. Nach dem Bau der Mauer am, 13. Au-gust 1961 in eine Grenzlage geraten, ließ der Hamburger Verleger Axel Springer auf der westlichen Seite der Kochstraße das nach ihm benannte Hochhaus für seinen Zeitungs- und Zeitschrif-tenverlag bauen. Dass man dieses Gebäude mit Lichtreklame auch weit im Ostteil der Stadt sehen konnte und als Bollwerk der Freiheit empfand, ärgerte die kommunistischen Machthaber auf der anderen Seite der Mauer. An Springer erinnert in der Nähe seines Verlags die Axel-Springer-Straße. Die Kochstraße indes hat weder etwas mit der Presse noch mit Essen und Trinken zu tun hat, denn sie ist nach dem Berliner Kommunalpolitiker Johann Jacob Koch benannt, der im frühen 18. Jahrhundert viel für Berlin und seine Einwohner geleistet hat.

(5. Juni 2016)

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