Mordpläne für elf Millionen Juden

Auf der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 legten Nazifunktionäre Details der "Endlösung" fest



Die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz ist
bei freiem Eintritt täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet.




Im Archiv des Auswärtigen Amtes blieb ein Exemplar des von
Eichmann verfassten Protokolls der Wannseekonferenz erhalten.




In der nach Plänen von Paul O. A. Baumgarten erbauten Wannseevilla
werden Etappen der Judenverfolgung, beginnend im 19. Jahrhundert
und endend mit dem Untergang des Nazireiches, dokumentiert.




Eine Tafel am Eingang des Grundstücks weist darauf hin, dass in
der Wannseevilla schreckliche Verbrechen geplant wurden.




Joseph Wulf verzweifelte an seinem Plan, im Haus am Großen Wannsee 56-58
eine Gedenk- und Bildungsstätte einzurichten. Eine Gedenktafel an seinem
Wohnhaus in der Giesebrechtstraße 12 erinnert an den streitbaren
Publizisten. Fotos/Repro: Caspar

Die Vernichtung der "jüdischen Rasse" war eines der wichtigsten Ziele der Nationalsozialisten. Wo immer Hitler, Göring, Goebbels und ihre Gefolgsleute sprachen oder etwas schrieben, war davon in unverblümten Worten die Rede. Die Errichtung der Nazidiktatur am 30. Januar 1933 gab ihnen die Mittel in die Hand, dieses Ziel zielstrebig und rücksichtslos zu verwirklichen. Waren bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 zahllose Juden im Deutschen Reich sowie den von ihm besetzten Ländern massiver Verfolgung und Ausgrenzung ausgesetzt, so begannen die Nazis danach unverzüglich mit der "Endlösung der europäischen Judenfrage". Geplant war, elf Millionen Juden zu ermorden, darunter auch solche in Ländern wie Großbritannien, Portugal, Schweden, Türkei und Ungarn, die noch nicht von der Wehrmacht besetzt waren. Diese Zahl wurde zum Leidwesen der Naziführung nur zur Hälfte erreicht. Historiker gehen davon aus, dass etwa sechs Millionen Menschen dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fielen.

Madagaskarplan war undurchführbar

Ein Markstein auf diesem Weg war am 20. Januar 1942 eine Besprechung hoher Nazifunktionäre in einer großbürgerlichen Villa am Großen Wannsee im Berliner Bezirk Zehlendorf. Was in der neunzigminütigen Besprechung unter Vorsitz des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich erörtert wurde, ist in einem von SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann verfassten Protokoll vermerkt, das erst 1947 im Archiv des Auswärtigen Amtes entdeckt wurde und daher im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess von 1945/6 nicht zur Sprache kam. In dem hochgeheimen Dokument ist euphemistisch von der "Zurückdrängung der Juden aus dem Lebensraum des deutschen Volkes" die Rede. Jetzt aber, im Jahr 1942, gehe es um die "Endlösung" für rund elf Millionen Juden.

Nach dem deutschen Sieg 1940 über Frankreich war in der NS-Führung zunächst darüber nachgedacht worden, ob und wie man vier Millionen Juden auf die französisch beherrschte Insel Madagaskar deportieren kann, um sie dort unter deutscher Oberhoheit und Kontrolle "agrarisch" einzusetzen und sie ihrem Schicksal zu überlassen. Der vom Reichssicherheitshauptamt und dem Auswärtigen Amt erarbeitete Madagaskar-Plan griff Ideen auf, die bereits im 19. Jahrhundert in antijüdischen Schriften diskutiert wurden. Mit der Ausarbeitung von Einzelheiten für die "Bereinigung des Judenproblems durch Auswanderung" wurde Eichmann betraut. Da der Erfolg der "Überseelösung insularen Charakters" vom Kriegsverlauf abhing, wurde er fallen gelassen, als sich die Deportation auf Schiffen zu der fernen Insel Madagaskar nicht bewerkstelligen ließ.

Töten, eliminieren, vernichten

Für die im Haus am Großen Wannsee 56-58 versammelten Konferenzteilnehmer war die Ermordung jener Menschen, die nicht "durch Arbeit" umkamen, so selbstverständlich, dass das konkrete Vorgehen im Protokoll nicht extra vermerkt wurde. An verschiedenen Stellen ist lediglich verharmlosend von Evakuierung, Sterilisierung und straßenbauenden Arbeitseinsätzen die Rede. Wie Eichmann später im Prozess in Jerusalem erklärte, sei während der Besprechung in sehr unverblümten Worten, anders als im Protokoll festgehalten, vom Töten, Eliminieren und Vernichten gesprochen worden. In langen Zahlenkolonnen hat Eichmann aufgelistet, wer unter welchen Bedingungen von der "Endlösung" betroffen sein soll, und es wird von den Sitzungsteilnehmern auch darauf hingewiesen, dass alles unternommen werden muss, "eine Beunruhigung der Bevölkerung" zu vermeiden.

In Eichmanns Mitschrift heißt es, nach dem Verbot der "Auswanderung" von Juden sei nunmehr, nach Kriegesbeginn, "als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten. Diese Aktionen sind jedoch lediglich als Ausweichmöglichkeiten anzusprechen, doch werden hier bereits jene praktischen Erfahrungen gesammelt, die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung sind. Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund elf Millionen Juden in Betracht".

Kampf um den Ort der Täter

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die zeitweilig von der SS als Erholungsheim und Tagungsort genutzte Wannsee-Villa zunächst von US-Soldaten besetzt. 1947 kam sie in die Verfügung des Berliner Magistrats und diente der SPD als Heimvolksschule des August-Bebel-Instituts. Von 1952 bis 1989 war das malerisch in einem Park gelegene Anwesen Schullandheim des Berliner Bezirks Neukölln. Offizielle Stellen im damaligen Westberlin hatten geringes Interesse, in dem historisch so schwer belasteten Ort der Täter ein Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen einzurichten. Als der jüdische Historiker und Auschwitz-Überlebende Joseph Wulf erkannte, dass er mit diesem seinem auch die beschämenden Vorgänge in der Nachkriegszeit einbeziehenden Plan auf taube Ohren stieß, nahm er sich am 10. Oktober 1974 das Leben, ein Jahr nach dem Tod seiner Frau Jenta. Enttäuscht über das geringe Interesse der politischen Instanzen und die Hetze gegen seine Person schrieb der streitbare Publizist kurz vor seinem Selbstmord seinem Sohn David: "Ich habe 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst Dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein - und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen (die kleinen SS-Leute, die nur angeführt haben, werden zwar verurteilt aber später befreit, weil sie Kreislaufstörungen haben)."

Am 19. Januar 1992, zum 50. Jahrestag der so genannten Wannsee-Konferenz, wurde in dem 1914 für den reichen Berliner Fabrikanten von Arzneien Ernst Marlier erbauten Haus endlich die Gedenk- und Bildungsstätte eingerichtet. Die Ausstellung dokumentiert nicht nur, was Anfang 1942 bei jener Besprechung erörtert wurde, sie zeigt auch die praktische Umsetzung und schildert in Bild und Schrift sowie einer Auswahl von Plakaten, mit welcher Perfidie die Nazis gegen Juden und andere ihnen verhasste Menschen gehetzt haben und mit Giftgas und Gewehrkugeln vorgegangen sind.

Erinnern für die Zukunft

Obwohl es viele Befürworter seines Plans gab, das Haus der Wannseekonferenz in eine Gedenk- und Bildungsstätte umzuwandeln, stieß Wolf beim Westberliner Senat auf geringes Interesse. Um das Schullandheim in der Wannseevilla zu erhalten, schlug der Senat andere Standorte für das Dokumentationszentrum vor, etwa eine Etage in einem Hochhaus. Aus allen diesen Projekten wurden nichts, stattdessen mussten die Befürworter des Dokumentationszentrums wüste Beschimpfungen über sich ergehen lassen und wurden sogar verdächtigt, "unbändige Hasspflege" zu betreiben. Der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Schütz befürchtete, der Gedenkort am Großen Wannsee könne eine "makabre Kultstätte" werden. Erst in den 1980-er Jahren geriet das Haus in das öffentliche Bewusstsein, und so konnten Wulfs Pläne langsam Gestalt annehmen. Als 1992 die Gedenkstätte im Haus der Wannseekonferenz eröffnet wurde, fehlte es nicht an wohlwollenden, ermunternden Worten aus Politikermund. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, betonte, die Gedenkstätte diene gerade durch die Erinnerung an die Opfer und die Auseinandersetzung mit der Tat und den Tätern nicht zuletzt der politischen Besinnung auf unsere daraus folgende Zukunftsverantwortung. Der Name ,Erinnern für die Zukunft', den sich der Trägerverein der Gedenkstätte gegeben hat, ist Programm."

Als Beitrag zum Berliner Themenjahr "Zerstörte Vielfalt" erinnerte 2013 eine im Haus der Wannseekonferenz gemeinsam mit dem Aktiven Museum Faschismus und Widerstand gestaltete Ausstellung an Joseph Wulf. Nach seiner Befreiung aus dem Vernichtungslager Auschwitz lebte Wulf zunächst in Polen, ging dann nach Paris und ließ sich 1952 in Berlin (West) nieder. Die Ausstellung zeichnete das Leben des bekannten Forschers und Publizisten nach, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Holocaust entgegen dem weitgehend durch Verharmlosung und Leugnung der NS-Verbrechen geprägten Zeitgeist in der Bundesrepublik Deutschland zu erforschen und die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren.

15. August 2016 Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"