Geheime Wahlen, Demokratie, Freiheit

Was sich hinter einer silbernen Gedenkmünze zum Volksaufstand 17. Juni 1953 in der DDR verbirgt



Die von Hans Dobler entworfene Gedenkmünze zum 17. Juni 1953
wurde 2003 in Berlin in einer Auflage von etwa 2,4 Millionen Stück geprägt.




Die streikenden Ost-Berliner wurden von der DDR-Propaganda
als faschistische Provokateure diffamiert.




In der Leipziger Straße wurde ein sowjetischer Panzer von den
Demonstranten aufgehalten.




Die DDR-Propaganda tat alles, um den Aufstand als faschistische,
vom Westen gesteuerte Provokation darzustellen. Exponat in
der Stasi-Ausstellung an der Ruschestraße in Berlin-Lichtenberg.




An der Wilhelm-/Ecke Leipziger Straße in Berlin erinnert eine
Gedenkstätte an den 17. Juni 1953 und seine Folgen.
Fotos/Repros: Caspar

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR hat die SED-Herrschaft ins Wanken gebracht. Über eine Million Menschen beteiligten sich an den Protestaktionen, die als Bauarbeiterstreik im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain begannen und binnen Stunden das ganze Land erfassten. Auslöser war eine von der Regierung verfügte zehnprozentige Erhöhung der Normen. Die Maßnahme wurde mit viel Propaganda-Tamtam als "Wille des Volkes" ausgegeben, war in Wahrheit aber angesichts der schlechten personellen und technischen Ausstattung der Betriebe nicht zu schaffen und wurde als ungerechtfertigte Lohnkürzung empfunden. Die SED unter Führung von Walter Ulbricht und die von Otto Grotewohl geleitete Regierung wollten von den Arbeitern mehr Leistung erzwingen, waren aber nicht bereit, für mehr Leistung auch mehr Geld zu bezahlen und die Lebens- und Versorgungslage spürbar zu verbessern. Vielmehr wurde von oben dekretiert, der Aufbau des Sozialismus in der DDR verlange erhöhte Anstrengungen, und es werde nicht zugelassen, dass über die Zumutungen diskutiert wird.

Die im Pankower Ortsteil Niederschönhausen in komfortablen Villen residierenden und sich bester Versorgung erfreuenden Machthaber gingen auf Forderungen nach Rücknahme der Normenerhöhung sowie nach freien, geheimen Wahlen nicht ein. Ihr Ende vor Augen riefen sie nach sowjetischen Besatzungstruppen. Die Führung in Moskau, die vor einem Führungs- und Machtwechsel in der DDR zurück schreckte, ließ auf die Streikenden schießen, die von der Stalinallee zum Haus der Ministerien am Potsdamer Platz marschierten, um der Regierung ihre Forderungen zu unterbreiten. Der sowjetische Stadtkommandant Generalmajor Dibrowa befahl angesichts der aufgewühlten Menge den Ausnahmezustand über den Ostteil der Viersektorenstadt und erklärte, Zuwiderhandlungen würden "nach den Kriegsgesetzen" behandelt. Standgerichte sprachen Todesstrafen über so genannte Rädelsführer aus, die dann auch vollzogen wurden. Auf beiden Seiten der Barrikaden kamen Menschen ums Leben oder wurden verletzt. Zu ihnen gehören auch Angehörige der Roten Armee, die exekutiert wurden, weil sie sich weigerten, auf deutsche Arbeiter zu schießen.

Steine gegen sowjetische Panzer

Die westlichen Besatzungsmächte USA, Großbritannien und Frankreich und die Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer waren von den Ereignissen in der Ostzone, wie man die DDR damals nannte, überrascht. Um nicht einen bewaffneten Konflikt mit der Sowjetunion, gar einen Dritten Weltkrieg zu riskieren, erlegten sie sich große Zurückhaltung auf und kamen auch den bedrängten Ost-Berliner Arbeitern nicht zu Hilfe. Für Adenauer waren die blutigen Ereignisse ein wichtiger Grund, die "Westbindung" der Bundesrepublik Deutschland zu verstärken. Dort fuhr man am "Tag der deutschen Einheit", der bereits am 3. Juli 1953 als gesetzlicher Feiertag eingeführt wurde, gern ins Grüne. Die Erinnerung an die dramatischen Ereignisse verblassten mit der Zeit. Viele Leute wussten schon bald mit dem Datum nichts mehr anzufangen und wurden höchstens durch Politikeransprachen an den Jahrestag erinnert.

Die Bundesrepublik Deutschland würdigte 2003 den Volksaufstand mit einer Gedenkmünze im Wert zu 10 Euro. Gestaltet von Hans Joachim Dobler zeigt das Silberstück, wie Ketten sowjetischer Panzer die politische Forderungen von damals niederwalzen: "Streik, Nieder mit den Normen, Rücktritt der Regierung, freie geheime Wahlen, Demokratie, Freiheit". Zu diesen Forderungen kamen damals noch die nach der Wiedervereinigung und dem Abzug der Roten Armee, aber auch grundlegende Verbesserung der Lebensverhältnisse und die Abschaffung der Privilegien für die SED-Bonzen. Doblers Münzentwurf bescheinigte die Jury, er überzeuge formal und inhaltlich "durch die einfache und spannungsvolle Verbindung von Bild- und Schriftelementen, die eine ästhetisch reizvolle Erscheinung der Prägung verspricht". Andere Künstler hatten weniger symbolische Darstellungen eingereicht, etwa protestierende Arbeiter, die sich mit Steinwürfen der sowjetischen Panzer zu erwehren versuchen, oder eine Faust, die Stacheldraht zerreißen will. Doch auch Spuren von Panzerketten kommen in den Entwürfen vor. Die Gedenkmünze zur Erinnerung an den 17. Juni 1953 sucht in der deutschen Münzgeschichte ihresgleichen. Klar ist, dass der Volksaufstand in der DDR numismatisch nicht gewürdigt wurde, doch auch in der Bundesrepublik Deutschland hat man ihm erst 2013 eine reguläre Gedenkmünze gewidmet. Da viele bisher geheim gehaltene Dokumente erst nach dem Ende der DDR ans Tageslicht kamen, konnten Ereignisse spät, aber nicht zu spät umfassend dargestellt werden.

Normenerhöhung als Auslöser

Die Ereignisse des 17. Juni 1953 wurden all die Jahre von der DDR-Propaganda als "Tag X" und als faschistischer Putsch diffamiert. Das Thema war in der DDR tabu, eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Ursachen, dem Verlauf und den Auswirkungen fand dort nicht statt, von Analysen abgesehen, die nur im Westen erscheinen konnten. Der aus dem Exil in den USA in die DDR zurück gekehrte Schriftsteller Stefan Heym wurde gleich nach der Niederschlagung des Aufstandes vom Verlag Das Neue Berlin aufgefordert, über die Vorgänge im Juni 1953 ein Buch zu verfassen. Da man ihm aber zumutete, die offizielle Sprachregelung zu übernehmen, es habe sich um einen von westdeutschen Agenten und dem Westberliner Sender RIAS ausgelöste und gesteuerte faschistische Provokation gehandelt, lehnte er ab. Heym fügte hinzu, er habe von sich aus an einem Roman gedacht. Heraus kam der Roman "5 Tage im Juni", der 1974 nur im Westen erscheinen durfte und Heym viel Ärger mit der Justiz und der Zensur des zweiten deutschen Staates eintrug, wie er in seinen Lebenserinnerungen "Nachruf" mit einigem Sarkasmus darlegt.

Der Autor schildert anhand der Vorgänge im VEB Merkur die Vorgeschichte und den Verlauf des Streiks der unzufriedenen Belegschaft vom 17. Juni 1953, und er baut in seinen Text um den SED-Genossen und Gewerkschafter Witte und seine Kollegen auch offizielle Dokumente ein. Diese zeigen, wie weit die nur unverständliches Parteichinesisch murmelnde SED- und Staatsführung von ihren Untertanen entfernt ist und mit welcher Frechheit sie Höchstleistungen verlangt, ohne einen Finger für die Verbesserung der prekären Lebens- und Versorgungslage krumm zu machen. Wenige Wochen nach Stalins Tod am 5. März 1953 muteten der Oberstalinist Ulbricht und seine Clique der DDR-Bevölkerung Unmögliches zu, ja mühte sich nicht einmal um plausible Erklärungen. Als es dann zu spät war, nahm die Regierung die Normen- und Steuererhöhung und weitere Maßnahmen, an denen sich der Aufstand entzündet hatte, zurück und bezeichnete diese schlicht als Fehler. Bei einer Parteiveranstaltung behauptete Grotewohl, ohne Ross und Reiter und die Rolle der Partei- und Staatsführung zu nennen, die Fehler seien entstanden aus der ehrlichen Absicht heraus, "die Entwicklung zur schnelleren Hebung der Lebenshaltung für das ganze Volk zu beschleunigen. An dieser Stelle setzte der grundlegende Fehler ein".

Ulbrichts Thron wackelte

Die Ursachen für den 17. Juni 1953 sind vielfältiger Art. Die damals auch für SED-Mitglieder überraschende Forderung des Parteichefs Walter Ulbricht, den Sozialismus in der DDR "beschleunigt" aufzubauen, den Klassenkampf und die Unterdrückung der Kirche zu forcieren, die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Enteignung von Gewerbetreibenden ohne Rücksicht auf Verluste voranzutreiben und außerdem weitere Einschränkungen im ohnehin dürftigen Lebensstandard zu akzeptieren, traf sogar im Machtzentrum auf Skepsis. Nach Stalins Tod wackelte Ulbrichts Position ganz erheblich. Interne Machtkämpfe in Moskau über die Nachfolge des sowjetischen Diktators blieben auch in Ost-Berlin nicht ohne Folgen. Indem sowjetische Panzer und die DDR-Geheimpolizei jeden Widerstand unterdrückten, stärkten sie den sächselnden Parteischef mit dem Spitzbart, der hinter jeden Satz ein bohrendes "nuuu?" zu setzen pflegte.

Lange war angenommen worden, dass sich der Aufstand vom 17. Juni 1953 nur auf Ostberlin, Halle, Bitterfeld, Magdeburg, Dresden oder Görlitz beschränkt hat. Jahrzehnte später wurde auf Grund von Historiker-Recherchen und der Befragung von Zeitzeugen deutlich, dass die Revolte auch zahlreiche kleine Städte und ländliche Regionen erfasst hatte, ja an verschiedenen Stellen aufflackerte, als in den Zentren des Aufstandes Dank des brutalen Eingreifens sowjetischer Panzer und dem Zugriff des DDR-Sicherheitsdienstes bereits wieder Totenstille herrschte. Dass der Westen den Aufstand im Osten genauestens beobachtete und mit Propaganda und Information eingegriffen hat, wo es möglich war, steht fest. Hier spielte vor allem der in Westberlin stationierte und auf Grund seiner starken Sendeleistung überall auch in der DDR zu empfangende Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) eine wichtige Rolle. Er wurde von seiner Leitung in München zurück gehalten, die angespannte Situation weiter anzuheizen, denn den Westmächten war an einer Eskalation der Gewalt nicht gelegen.

Abrechnung mit Rädelsführern

Blutig und gnadenlos rechnete das Regime mit so genannten Rädelsführern ab, aber auch mit höheren Funktionären bis in das SED-Politbüro und Zentralkomitee hinein, die der Illoyalität gegenüber der Partei, und das war Ulbricht persönlich, bezichtigt wurden. Die Gerichte sprachen Todesurteile und hohe Zuchthausstrafen aus, zahlreiche Funktionäre verloren ihre Arbeit, loyale Genossen wurden mit Parteistrafen überzogen und degradiert. Nach dem Aufstand stand Ulbricht gestärkt wie nie da. Es hat Anbiederungsversuche von Künstlern und an ihn und seine Genossen gegeben. Ein noch am 17. Juni 1953 verfasstes Dankschreiben an die Adresse der SED hat Bertolt Brecht viel Kredit gekostet. Sein Wochen später geschriebenes Gedicht "Die Lösung" mit dem Rat, die Regierung möge das Volk auflösen und sich ein anderes wählen, wurde in der DDR nicht gedruckt.

In der DDR mühte sich die vom Aufstand geradezu traumatisierte Partei- und Staatsführung in den folgenden Jahren und Jahrzehnten, wenigstens die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Dies geschah durch so genannte sozialpolitische Maßnahmen, kleine Lohn- und Rentenerhöhungen und Ankurbelung des Wohnungsbaues, flankiert durch den ab 1953 verstärkten Ausbau des Staatssicherheitsapparats und eine massive ideologische Einflussnahme. Wie instabil die Lage in der DDR vor dem Hintergrund der Machtkämpfe in Moskau und der Aufstände in Ungarn und Polen 1956 war, zeigt die massive Fluchtbewegung, die erst am 13. August 1961 durch den Mauerbau aufgehalten wurde.

An der Ecke Wilhelmstraße/Leipziger Straße in Berlin-Mitte wurde im Juni 2000 ein Denkmal zur Erinnerung an den 17. Juni 1953 enthüllt. Gestaltet von Wolfgang Rüppel, zeigt ein im Boden vor dem heutigen Bundesfinanzministerium eingelassenes Glasbild protestierende Arbeiter, die sich unterhaken und zum damaligen Sitz des DDR-Ministerrates marschieren, um ihre Forderungen abzugeben. Eine Gedenktafel an der Hauswand erklärt, woran mit dieser ungewöhnlichen Gedenkstätte erinnert wird, außerdem berichten Bild-Text-Tafeln über die Vorgänge am 17. Juni am Potsdamer Platz.

Spitzbart, Bauch und Brille

Die "führenden Persönlichkeiten" der DDR waren sehr um ihr Ansehen in der Bevölkerung bemüht. Einerseits gaben sich Ulbricht, sein Nachfolger Erich Honecker und die Genossen vom SED-Politbüro volkstümlich und kumpelhaft, doch wenn man sich über sie lustig machte, konnten sie garnicht menschenfreundlich reagieren. Über den Reim "Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille" dürften der damit charakterisierte Bartträger Walter Ulbricht, der sich jovial gebende, mit einem mächtigen Bauch versehene Staatspräsident Wilhelm Pieck sowie der den Feingeist und Künstler gebende Brillenträger Ministerpräsident Otto Grotewohl, der 1946 per Handschlag die Fusion der Ost-SPD mit der KPD vollzogen hatte, kaum amüsiert gewesen sein. Der freche Zweizeiler kursierte im Juni 1953 unter aufgebrachten Arbeitern und war auch auf einem Schild zu lesen, das diese dem Händeldenkmal auf dem Marktplatz zu Halle an der Saale umgehängt hatten. Trotz des um ihn massiv entfalteten Personenkults war Ulbricht als derjenige verhasst, der am 13. August 1961 in enger Abstimmung mit der Sowjetregierung die Mauer und die innerdeutsche Grenze errichten ließ, was ihm einen weiteren Spitznamen, nämlich Mauerbauer eintrug. Ein andere Spitzname war "Genosse Niemand" nach seiner bei einer Pressekonferenz im Sommer 1961 verkündeten Aussage "Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten", die sich schon bald als dicke Lüge erwies.

9. August 2016

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