"Dem deutschen Volke"
Der lange Kampf um die Inschrift am Berliner Reichstagsgebäude



Die Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE über dem Portal des Reichstagsgebäudes konnte erst 1916 angebracht werden.



Arbeiter fügen die in der Bronzegießerei Loevy hergestellten, 60 Zentimeter großen Buchstaben in das südliche Giebeldreieck ein.



Die Medaille von 1894 feiert die Weihe des Reichstagsgebäudes, das Kaiser Wilhelm II. insgeheim "Reichsaffenhaus" nannte.



"Seh dir den ollen Kasten an - an dem is keene Inschrift dran" ist auf der Scherzpostkarte mit einem vor dem Reichstagsgebäude stehenden notleidenden Mann zu lesen.



Auf der Postkarte aus der Zeit gleich nach dem Kriegsende sieht man rund um das Reichstagsgebäude nur Ruinen.



Die Verhüllung des Parlamentsgebäudes war ein einzigartiges Spektakel, das unzählige Besucher nach Berlin lockte.



Nach der Verhüllungsaktion begann der Umbau, der mit der Errichtung der gläsernen Kuppel erfolgreich abgeschlossen wurde. Viele Berliner und Berlin-Besucher haben von dort schon den prächtigen Blick auf die Stadt genossen. (Fotos/Repros: Caspar)

Das Reichstagsgebäude am Platz der Republik ist eine der Hauptanziehungspunkte für Berlin-Besucher und zudem ein Gebäude, in dem sich wie in kaum einem anderen Aufstieg und Niedergang deutscher Geschichte des vergangenen Jahrhunderts spiegeln. Kaum bekannt ist, dass Kaiser Wilhelm II. das oberste Parlament als "Reichsaffenhaus" verspottete. Und es sollte auch in Erinnerung gerufen werden, dass es einen jahrzehntelangen Streit um die Inschrift "Dem deutschen Volke" am heutigen Sitz des Deutschen Bundestages gab. Das Jüdische Museum Berlin hat 2003 die Ausstellung "Dem Deutschen Volke" der Berliner Bildgießerei Loevy gewidmet, in der unter anderem die Inschrift "Dem Deutschen Volke" am Reichstaggebäude entstanden ist. Die aus Schneidemühl in der preußischen Provinz Posen stammende jüdische Fabrikantenfamilie Loevy hatte es in der preußischen Haupt- und Residenzstadt und nach der Reichseinigung von 1871 deutschen Hauptstadt zu Wohlstand und Ansehen gebracht, ja gehörte wegen der hohen Qualität der in der Gießerei produzierten Türbeschläge, Klinken, Bronzegüsse und weiteren Erzeugnisse sogar zum Kreis der kaiserlichen Hoflieferanten und wurde auf internationalen und nationalen Fachmessen mit Auszeichnungen bedacht.

Deportiert und ermordet

In der Nazizeit gelang einigen zunehmend von Ausgrenzung und Verfolgung bedrohten Familienmitgliedern die Emigration, andere wurden, nur weil sie Juden waren und unter die NS-Rassengesetze fielen, zu zermürbender Zwangsarbeit verpflichtet und schließlich deportiert und ermordet. Die Gießerei, die mit führenden Designern ihrer Zeit eine fruchtbare Zusammenarbeit gepflegt hatte, erhielt kaum noch Aufträge oder konnte sich welche "hintenherum" beschaffen. 1939 wurde die Firma S. A. Loevy "arisiert". Der Kaufpreis lag weit unter dem Wert des Unternehmens und wurde von dem Arisierer auch nur zu einem Bruchteil bezahlt, was einer Enteignung gleich kam. Die Mitglieder der ehemals so angesehenen Familie verloren Arbeit und Lebensgrundlagen, und schon bald mussten sie jeden Tag, jede Nacht damit rechnen, in die besetzten Ostgebiete deportiert und umgebracht zu werden. Das Begleitbuch zur Ausstellung, mit der das Jüdische Museum ein bisher unbekanntes Stück jüdischer Kultur- und Familiengeschichte aufgearbeitet und gezeigt hat, wie von den Nazis mit dem Tod bedrohte Juden in Berlin untertauchen und überleben konnten und was das auch mit der Bronzegießer-Familie und ihrem Umfeld zu tun hat, erschien 2003 im DuMont Verlag die Publikation "Dem Deutschen Volke" - Die Geschichte der Berliner Bronzegießer Loevy" (192 Seiten, über 60 Abbildungen, 14,90 Euro). Darin finden sich auch Angaben darüber, wie vom Tod bedrohte Juden ihren Selbstmord vortäuschten, etwa indem sie ihre Kleidung samt Ausweis am Wasser liegen ließen, so dass die Behörden nicht mehr nach den Leichen suchen mussten.

Als das nach Plänen des Architekten Paul Wallot nach langen Vorbereitungen, zahlreichen Veränderungen außen und innen und einem kleinlichen Streit um die Höhe der Kuppel, die die Schlosskuppel nicht überragen durfte, erbaute Reichstagsgebäude 1894 mit großem Prunk und Pomp von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht wurde, hielt der Monarch nur mühsam mit seiner Abneigung gegenüber allem, was mit Parlamenten zu tun hat, hinterm Berg. Er bevorzugte das "persönliche Regiment" und bestimmte nach eigenem Gusto die Richtlinien der Politik, mochten linke Abgeordnete noch so vehement dagegen wettern. Als der Monarch 1894 "im Namen der Fürsten und Freien Städte des Reiches und in Gemeinschaft mit den verfassungsmäßigen Vertretern des deutschen Volkes" den Schlussstein legte und dabei an seinen Großvater Wilhelm I. und seinen Vater Friedrich III. erinnerte, lobte er das Reichstagsgebäude als Zeugnis deutschen Fleißes und deutscher Kraft und als Denkmal einer großen Zeit, "in welcher als Preis der schwer errungenen Sieg das Reich zu neuer Herrlichkeit erstanden ist, eine Mahnung den künftigen Geschlechtern zu unverbrüchlicher Treue in der Pflege dessen, was die Väter mit ihrem Blute erkämpft haben". Nach zehn Jahren mühevoller Arbeit walte nun in den Räumen der Geist der Gottesfurcht, der Vaterlandsliebe und der Eintracht, fügte der Kaiser hinzu.

Unliebsame Erörterungen

Bei dem mit einer riesigen Kuppel und wuchtigen Türmen an den Ecken sowie reichem Fassadenschmuck versehenen Parlamentspalast war alles vom Feinsten und Besten. Nur eines wurde vermisst - die für Staatsbauten dieser Art obligatorische Portalinschrift. Man liest dergleichen noch heute an zahlreichen öffentlichen Bauten in Berlin. Als Stifter des Reichstags konnte Wilhelm II. allerdings nicht genannt werden. Nach Auskunft der Akten soll er sich in die Inschriftenfrage nicht eingeschaltet haben, befürwortet hat er aber auch nicht die Inschrift "Dem Deutschen Volks". Stattdessen schlug er, "unliebsame Erörterungen" in Kauf nehmend, wie man in der Umgebung feststellte, das Motto "Der Deutschen Einigkeit" vor. Dies vielleicht mit dem Hintergedanken, das Volk und seine Vertreter mögen sich unter dem Schutz der Krone, die am und im Reichstagsgebäude allgegenwärtig sind, friedlich zusammenfinden und ohne Murren die kaiserlichen Ratschlüsse verwirklichen.

Begierig wurde die Inschriftenfrage in der Öffentlichkeit aufgegriffen. Man schlug mehr oder witzige Varianten wie "Dem deutschen Heere" vor, weil man bei der Eröffnung 1894 fast nur bunte Uniformen und blitzende Orden in "Wallotsteins Lager" gesehen hatte, benannt nach dem Architekten Paul Wallot, der die Entwürfe für das Reichstagsgebäude geliefert hatte. Es gab auch Vorschläge wie "Dem Wohle des deutschen Volkes" oder sogar "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" vor und wusste schon beim Hinschreiben, dass diese und weitere Parolen kaum in die Leerstelle über dem Südportal gemeißelt werden. Für den Dichter Frank Wedekind war eine Inschrift sowieso unnötig. "Und so verhüllt auch heute eine Wolke / Noch die Aufschrift: ,Dem deutschen Volke'; / Gebe Gott, dass sie nie wird zu lesen sein / Über diesen kleinen Fensterlein". Der Historiker Heinrich von Sybel war überzeugt, es bedürfe keiner besonderen Angabe über den Zweck und Eigentümer des Hauses. Man sehe ja, "dass hier kein Confectionslager existirt." So wurde die Frage erst einmal ad acta gelegt, und die Aufregung über die Inschriftenfrage legte sich.

Kaiser spendiert Bronzekanonen

Erst 1915, im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs, griff die Presse das Thema erneut auf. Jetzt zeigte sich der Kaiser geneigt, die umstrittene Inschrift zu genehmigen. Er stiftete sogar für den Guss der bronzenen Buchstaben zwei im Depot auf der Spandauer Zitadelle verwahrte Kanonen, die in den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 erobert worden waren. Aus dem Metall hatte man damals Medaillen gefertigt, die sich Heimkehrer aus den Kämpfen gegen das napoleonische Frankreich auf die Kleidung heften konnten und die ausdrücklich betonen, dass sie "aus erobertem Geschürt" bestehen. Als habe man keine anderen Sorgen, entbrannte erneut ein Streit, allerdings diesmal um die zu verwendende Schriftart. Zur Diskussion standen Antiqua und Fraktur, doch einigte man sich auf eine von den Architekten und Designer Peter Behrens entworfene "jugendstilige" Schrift. Da Behrens viel mit der Bronzegießerei Loevy zu tun hatte, stand außer Frage, dass die 60 Zentimeter großen, schwungvoll gestalteten Buchstaben auch dort modelliert und gegossen werden. Als Arbeiter die 16 Meter lange Inschrift montierten, war das der damaligen Presse kaum eine Meldung wert, die Leute hatten wahrlich andere Sorgen.

Dass der Prunkbau aus Kaisers Zeiten überhaupt erhalten ist, ist nicht selbstverständlich, denn schon bald nach dem Sturz der Monarchie in der Novemberevolution 1918 gab es Bestrebungen, das von den Abgeordneten als zu klein empfundene Haus im Zusammenhang mit Neubebauplänen des Spreebogen-Areals umzubauen oder gar abzureißen, wenigstens aber seines bombastischen Fassadenschmucks zu entkleiden. Der berühmte Architekt, Maler, Designer und Typograf sowie Pionier des modernen Industriedesigns Peter Behrens setzte sich dafür ein, den prunkvoll verzierten Baukörper "glatt" zu rasieren. Ähnliches hatte man auch mit dem Berliner Dom vor, ebenfalls einem Zeugnis wilhelminischer Baukunst. Ein großer Teil der nun auf die Weimarer Republik eingeschworenen Abgeordneten störte sich vor allem an Standbildern von Kaisern und Königen, an Kronen, Zeptern und kriegerischen Symbolen, die man als wenig zeitgemäß abschlagen wollte. Da das nicht möglich war, wurden Herrscherfiguren bei Staatsakten schamhaft verhüllt.

Zu Beginn der Nazidiktatur (1933) bei einem von den neuen Herren organisierten Brandanschlag, welcher sofort den Kommunisten angelastet wurde, zum Teil zerstört, wurde das Reichstagsgebäude bis auf den ausgebrannten Plenarsaal saniert und für Propagandaausstellungen wie "Bolschewismus ohne Maske" und "Der ewige Jude" missbraucht. Hitler brauchte den Wallotbau, in dem bis 1941 die Bibliothek und das Archiv des Reichstages untergebracht waren, als Vergleichsstück für seine monumentale Halle des Volkes, die am Ende einer langen Allee errichtet werden sollte. Mit einer Kuppelhöhe von 290 Metern hätte dieser Riesenbau mit Platz für 100 000 Menschen das Reichstagsgebäude und das benachbarte Brandenburger Tor auf die "relative Größe einer Außentoilette" schrumpfen lassen, wie Michael Cullen, der wohl beste Kenner der Geschichte des Reichstagsgebäudes, sarkastisch bemerkt hat.

Hoher Symbolwert für Stalin

Während des Kriegs suchten im Reichstagsgebäude Berliner Familien Schutz vor alliierten Bomben, und es wird berichtet, dass in den Kellergewölben auch Kinder zur Welt kamen. Bei den Kämpfen in den letzten Kriegstagen wurde das Reichstagsgebäude schwer in Mitleidenschaft gezogen, blieb aber stehen. Für Stalin und seine Rote Armee besaß es einen hohen Symbolwert. Fotos von Sowjetsoldaten, die auf der Kuppel des Reichstages die Fahne des Sieges schwingen, gingen um die Welt. Der Wiederaufbau der im westlichen Teil der Viersektorenstadt Berlin verlief in mehreren Etappen und war erst 1999 mit der Errichtung der neuen Kuppel nach Plänen des britischen Stararchitekten Sir Norman Foster abgeschlossen. In guter Erinnerung ist die spektakuläre Verhüllung des Reichstagsgebäudes im Sommer 1995 durch die Aktionskünstler Christo und seine Frau Jeanne Claude. Der Bundestag hatte dazu nach heftiger Debatte seine Zustimmung gegeben. Hunderttausende kamen und bestaunten den in der Sonne silbrig glänzenden Baukörper, dem damals noch die Kuppel fehlte. Gleich nach dem Ende dieses einmaligen Spektakels begannen die Umbauten. Sie bescherten dem Deutsche Bundestag ein Haus, das allen Anforderungen an einen gut funktionierenden Parlamentsbetrieb entspricht. Auf Grund der strengen Auflagen des Denkmalschutzes hat man Graffiti, die 1945 von Soldaten der Roten Arme an einigen Wänden angebracht wurden und interessante Zeitzeugnisse darstellen, nicht beseitigt. Während die Fassade des Reichstagegebäudes so gut wie möglich und erwünscht wiederhergestellt und ergänzt wurde, von der alten Kuppel abgesehen, ist vom kaiserzeitlichen Prunk im Inneren kaum etwas noch zu sehen. Zu stark waren die Zerstörungen Ende des Zweiten Weltkriegs, zu radikal auch die Eingriffe in den Jahren danach. Der Plenarsaal und alle anderen Sitzungsräume sowie die Treppenhäuser und Gänge sind modern-funktional in kühlen Farben gehalten.

27. November 2017

Zurück zur Themenübersicht "Berlin, Potsdam, Land Brandenburg"