Taubstumme Kanarienvögel
Warum der Berliner Weihnachtsmarkt vom Schlossplatz auf andere Standorte vertrieben wurde und was sich "zwischen den Jahren" ereignete



Wie es um 1776 in einer "guten" Weihnachtsstube noch ohne Tannenschmuck zuging, schildert der Grafiker Daniel Chodowiecki auf diesem Kupferstich.



Auf dem Berliner Arkonaplatz möchten Berliner Gören bei grimmiger Kälte für ein paar Pfennige selbstgebasteltes Spielzeug verkaufen, Zeichnung von Heinrich Zille.



"Ick träume nachts - det jehört allens mir!" lässt Heinrich Zille 1925 arme Proletarierkinder vor einem festlich erleuchteten Schaufenster sagen.



Vater hat in der guten Stube die Kerzen angezündet, Mutter wacht darüber, dass bei der Bescherung keiner vergessen wird.



Zum Neuen Jahr war es guter Brauch, Lauf- und Dienstboten, Postleute und Schornsteinfeger zu beschenken, das sollte Glück bringen. (Repros: Caspar)

Während der Weihnachtsbaum als Symbol von Treue und Beständigkeit erst um das Jahr 1800 an der Spree beliebt wurde, ist der Berliner Weihnachtsmarkt wesentlich älter. Schon im Mittelalter gab es in den Tagen vor Christi Geburt Mysterienspiele, Sternensingen und Jahrmärkte. Dabei muss es sehr fröhlich und ausgelassen, manchmal auch ziemlich laut zugegangen sein. Überliefert ist der Handel mit Wachskerzen sowie Honiggebäck, dem man heilende und fruchtbarkeitsfördernde Wirkungen zuschrieb. Krämerbuden gab es auf dem Petriplatz, dem Köllnischen Fischmarkt und anderenorts in der Doppelstadt Berlin-Cölln.

In der Barockzeit hat man zur Weihnachtszeit im Schatten des Schlosses und in der still-vornehmen Breiten Straße Buden aufgeschlagen. Die Hohenzollern und ihr Hofstaat ließen es sich nicht nehmen, in die Niederungen weihnachtlicher Vergnügungen herabzusteigen und vor ihrer Haustür Naschwerk und Silbersachen zu kaufen. An den guten Brauch erinnerten fliegende Händler in einer Petition an Kaiser Wilhelm II., der sich durch aufdringliches Tuten und Blasen vor seinem Palast beleidigt fühlte, weshalb der Polizeipräsident veranlasst wurde, in den 1890er Jahren den Weihnachtsmarkt auf andere Standorte, etwa den Alexanderplatz oder den Arkonaplatz, zu verlegen, was zu manchem Ärger bei Händlern und den Besuchern führte.

Pöbelhafte Ansammlung billiger Breterbuden

Das ehemals so gelobte Spektakel, das durch königlichen Besuch sogar "geadelt" wurde, war zu Kaisers Zeiten nicht mehr für den Monarchen und seine Hofschranzen fein genug. Das Volksvergnügen galt jetzt als bloßer Jahrmarkt und "pöbelhafte Ansammlung" billiger Bretterverschläge mit übelriechendem Inhalt. Der alte Brauch habe sich im "modernen" Berlin überlebt, er sei "in der That eine gänzlich veraltete, den Verhältnissen und der Würde der Reichs-Hauptstadt in keiner Weise mehr entsprechende Krämereieinrichtung", hieß es zur Begründung. Die Kritiker hatten Angst um ihre Ohren, denn es "quieckte, pfiff, klapperte, zwitscherte, rasselte, trommelte, flötete in diesen Budenreihen, es war ein Spektakel, als ob sich sämtliche Musikkapellen des gesamten deutschen Reiches hier ein ,stimmungsvolles' Rendezvous gegeben hätten", wie es in einer über hundert Jahre alten Beschreibung heißt.

Doch gab es auch handfestere Argumente. Denn wenn sich Damen und Herren aus "besseren Kreisen" zufällig auf den Weihnachtsmarkt in der Breiten Straße oder dem Lustgarten verirrten, wurden sie angepöbelt, verspottet und wohl auch mit allerhand Unflat beworfen. Sogenannte Walddeibeljungen machten sich einen Jux, so genannte Oberschichtler samt Kindermädchen und Dienerschaft durch lautstarkes Trommeln, Tuten und Schnarren aus der Fassung zu bringen.

Bis zu 3000 fliegende Händler sollen auf dem Schlossplatz versucht haben, die oft in mühsamer Heimarbeit gefertigten Spielsachen und anderen Waren zu verkaufen. Viel war an ihnen nicht zu verdienen, das bisschen Einkommen spielte aber bei den Heimarbeitern als Einnahmequelle eine beachtliche Rolle. Zu kaufen gab es in der Budenstadt buchstäblich alles: "Von Äpfeln, Nüssen, Pfefferkuchen an bis zu vollständigen Kücheneinrichtungen, bis zu wollenen Decken, Kleidern, Teppichen, Harmoniums, Leierkästen und wonach man sonst noch Bedarf hat", heißt es in einem Bericht aus dem Jahre 1895. Es muss aber auch mancher Schund im Angebot gewesen sein, denn man erfährt von taubstummen Kanarienvögeln, so angeblichen Nerzumhängen aus Kaninchenfell oder Wurst, die nach Seife schmeckt. Mancher Nostalgiker allerdings würde sich heute freuen, bekäme er für die Preise von damals bunt bemalte Nachttöpfe, bestickte Hosenträger mit sinnigen Aufschriften wie "Bleib mich treu", Zinnsoldaten und anderen Antik-Trödel.

Peitschenknall, Böller und dicke Marie

Glaubt man den Historikern, dann ging es im alten Berlin (und nicht nur dort!) "zwischen den Jahren", also in der letzten Woche eines ablaufenden Jahres, recht seltsam zu. Nach den besinnlichen Weihnachtstagen drehten vor allem junge Leute auf. Sie streiften laut johlend, rasselnd und trommelnd durch die Straßen und erschreckten die Passanten mit ihrem Geschrei. Mit Pfeifen, Läuten, Peitschenknall, Böllerschüssen und dem Anzünden von Freudenfeuern wurde das alte Jahr mit all seinen guten und unguten Ereignissen verabschiedet oder die neue, sozusagen jungfräuliche Zeit freundlich, aber lautstark begrüßt. Es gibt Belege für den Aberglauben, dass die künftige Ernte umso besser wird, je lauter das Getöse in der Silvesternacht ist. Würde das stimmen, dann müsste es wenigstens in unseren Breiten nur gute Ernten geben!

In den Tagen vor Neujahr zeigte man sich besonders freigebig, wenn Lieferanten, Schornsteinfeger, Leute von der Post und andere Personen klingelten. Man verschenkte in manchen Gegenden Gold- und Silbermünzen in der Hoffnung, dass sich die Freigebigkeit im kommenden Jahr auszahlt und verzinst. Wer es sich leisten konnte, verbrannte in der Silvesternacht alte Kleider, um Unrecht oder böse Erlebnisse im vergangenen Jahr ungeschehen zu machen und einen neuen Anfang zu wagen. Bis in unsere Tage ist die Meinung verbreitet, dass Wäschewaschen am Jahresende Unglück bringt. Um Glück und Wohlstand ins Haus zu holen, waren die Menschen recht einfallsreich. Die Berliner gingen in der Nacht zum Neuen Jahr gern mit viel Geld in der Tasche umher, so sie welches hatten, in der Hoffnung, die "dicke Marie" werde sich ab dem 1. Januar auf geheimnisvolle Weise vermehren. In dieser Erwartung wusch man sich auch in einer Schüssel mit Münzen darin. Aufgehoben wurden im Portemonnaie silbrig glänzende Schuppen des Silvesterkarpfens, denen man die Kraft der Geldvermehrung zuschrieb.

Als Glücksbringer waren Schweine beliebt, man sagt ja auch heute noch, dass man "Schwein hat". Viele Leute hatten im alten Berlin die Rüsseltiere im Stall gleich hinterm Haus. Da man sie aber nicht in der Wohnung laufen lassen wollte, beschenkte man sich ersatzweise mit verkleinerten Kopien aus Holz, Porzellan, Zinn, Marzipan oder anderem Material. Das gleiche geschah mit Glücksklee. Doch seitdem vierblättrige Ausgaben gezüchtet werden und Marzipanschweine oder auch Sparschweine aus Keramik überall zu kaufen sind, haben diese "Schicksalshilfen" an Attraktivität verloren. Viele alte Neujahrsbräuche sind vergessen, doch es gibt auch neue Traditionen, das Neujahrsbaden in eiskaltem Wasser etwa und den Neujahrslauf. Er ist in Berlin zu einem Spektakel mit großer Beteiligung geworden und wird auch anderswo nachgeahmt, weil man auf angenehme Weise an frischer Luft seinen "Kater" und andere Überbleibsel einer durchzechten Nacht loswerden kann.

15. November 2017

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