Gras drüber und am liebsten alles ausblenden
Aufrüttelnde Sonderausstellung in der Topographie des Terrors über den Umgang mit NS-Täterorten im alten West-Berlin



Die auf eine 25-jährige Geschichte zurückblickende Gedenk- und Bildungsstätte im Haus der Wannseekonferenz sowie das Aktive Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e. V. zeigen bis zum 29. November 2017 im Foyer der Topographie des Terrors die Ausstellung "Ausgeblendet - Der Umgang mit NS-Täterorten in West-Berlin".





Joseph Wulf (links im Gespräch mit einem Journalisten) erlebte nicht, dass sein Plan, im Haus der Wannseekonferenz ein Zentrum der Erinnerung an den Holocaust und Forschung einzurichten, Wirklichkeit wurde. Erst 1992 konnte die kaiserzeitliche Villa mit dieser Aufgabe eröffnet werden.



Die Topographie des Terrors auf dem früheren Gestapo- und SS-Gelände dokumentiert in Dauer- und Einzelausstellungen die Verbrechen des Nationalsozialismus und wie Widerstandskämpfer gegen ihn aufgestanden sind.



Vor der ehemaligen Dienststelle von Adolf Eichmann in der Kurfürstenstraße wird in deutscher und englischer Sprache über die Arbeit des Reichssicherheitshauptamtes und seines Judenreferats berichtet.



Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas wurde am 10. Mai 2005 eingeweiht. Manche Betonblöcke weisen Risse auf und müssen saniert werden.(Fotos: Caspar)

Zahlreiche Gedenkstätten, Mahnmale, Dokumentationszentren, aber auch Tafeln an Hauswänden und Stolpersteine aus Messing vor Wohnhäusern halten in Berlin die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten und an diejenigen, die ihren Widerstand mit ihrem Leben, Gesundheit und Freiheit bezahlen mussten. Bekannte Adressen sind die Topographie des Terrors auf dem ehemaligen Gestapogelände an der Niederkirchnerstraße, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Sichtweite des Brandenburger Tors, die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz am Großen Wannsee, die Hinrichtungsstätte am Hüttigpfad in Plötzensee, das Gleis 17 auf dem Bahnhof Grunewald und ein Stück Bahngleis in der Nähe der Putlitzbrücke, von denen Berliner Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager und damit in den Tod transportiert wurden.

Zu nennen sind ferner die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße, Neue Wache Unter den Linden als zentraler Ort des Gedenkens an die Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft, das Mahnmal an die von den Nazis ermordeten Kranken und Schwachen in der Tiergartenstraße unweit der Philharmonie, ein Brunnen in der Nähe des Reichstagsgebäudes, der die ermordeten Sinti und Roma ehrt, sowie die Gedenkstätten am Rand des Tiergartens und am Magnus-Hirschfeldufer im Ortsteil Moabit, der an die Opfer der Homosexuellenverfolgung durch die Nationalsozialisten erinnert. Auch in der Synagoge an der Fasanenstraße sowie den Kirchen Maria Regina Martyrum am Heckerdamm 230 und Sühne Christi an der Toeplerstraße in Charlottenburg Nord sind die Verbrechen unvergessen, die zwischen 1933 und 1945 geschehen sind. Auf verschiedenen Friedhöfen wird durch Skulpturen und Tafeln an die Toten des Zweiten Weltkriegs erinnert, es gibt außerdem Gebäude und Gedenkstätten, die die Erinnerung an die ermordeten Juden, Sinti und Roma, die Kranken und Schwachen wach halten.

Falsch verstandene Vergangenheitsbewältigung

Auf der anderen Seite gibt über die ganze Stadt verteilt Gebäude, in denen Forschungen mit dem Ziel angestellt wurden, Menschen zu ermorden, die nicht in das rassistische und völkische Weltbild der Nationalsozialisten passten. Vor zahlreichen Häusern sind Stolpersteine mit Namen sowie Lebens- und Todesdaten von Juden und anderen Menschen ausgelegt, die Opfer des Holocausts wurden. Dass in den vergangenen Tagen vor allem in Neukölln die kleinen Messingplatten aus dem Boden gerissen haben, hat Bürgergruppen auf den Plan gerufen, die sich die Schändung des Andenkens an die Opfer des Nationalsozialismus nicht gefallen lassen.

Die Ausstellung "Ausgeblendet - Der Umgang mit NS-Täterorten in West-Berlin" in der Topographie des Terrors schildert, wie es nach dem Ende der Naziherrschaft und dem Zweiten Weltkrieg historisch belastete Gebäude und Gelände in falsch verstandener Vergangenheitsbewältigung abgerissen wurden, aber auch was erhalten blieb und umgewidmet wurde. In Schrift und Bild wird geschildert, welche zermürbenden Kämpfe Nazi-Opfer führen mussten um zu verhindern, dass auf Orten des Grauens nach dem Motto "Gras drüber und alles vergessen" Tabula rasa gemacht wurde.

Das geschah im wahrsten Sinne des Wortes mit dem früheren Gestapogelände, auf dem die aus der Kaiserzeit stammenden, im Krieg zerbombten Gebäude abgerissen und die Keller zugeschüttet wurden. Die Dauer- und die Sonderausstellungen in der 2010 eröffneten Topographie des Terrors unweit des Berliner Abgeordnetenhauses und des Martin-Gropius-Bau sind gut besucht, und wer möchte, kann dort auch in der gut bestückten Bibliothek Forschungen anstellen. Beim nach dem Krieg zeitweilig als Schullandheim genutzten Haus der Wannseekonferenz gab es Pläne, es wegen seiner historischen Belastung dem Erdboden gleichzumachen und damit auch ein Stück "unliebsamer Geschichte" zu tilgen. Für die Nutzung der malerisch am Großen Wannsee als Dokumentationsstelle machte sich der Auschwitz-Überlebende und Buchautor Joseph Wulf stark. Obwohl es Befürworter seines Plans, das Haus der Wannseekonferenz in eine Gedenk- und Bildungsstätte umzuwandeln, stieß Wulf mit seiner Forderung beim West-Berliner Senat auf wenig Resonanz. Resigniert stellte er einmal fest, und dieses Zitat findet sich im Haus der Wannseekonferenz, er habe 18 Bücher über das Dritte Reich geschrieben, doch hätten diese keine Wirkung gehabt. "Du kannst dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen".

Erst nach Wulfs Freitod am 10. Oktober 1974 kam Bewegung in das Vorhaben, und so konnte die Gedenk- und Bildungsstätte im Januar 1992 eröffnet werden, ein halbes Jahrhundert nach der Tagung "mit anschließendem Frühstück", in der hohe NS-Funktionäre Einzelheiten für die Ermordung von mindestens elf Millionen europäischen Juden festlegten. Protokollführer Adolf Eichmann bedauerte später, dass "nur" sechs Millionen Juden ermordet wurden und sagte 1961 beim Prozess in Jerusalem, für die Konferenzteilnehmer sei die Ermordung jener Juden, die nicht "durch Arbeit" umkamen, so selbstverständlich gewesen, dass das konkrete Vorgehen im Protokoll nicht extra vermerkt werden musste.

Wo Eichmann die Todestransporte plante

Auch das Haus an der Kurfürstenstraße 115/116, in dem das von Eichmann geleitete Referat IV B 4 (Juden) des Reichssicherheitshauptamtes und ab 1941 die Zentrale der "Endlösung der Judenfrage" untergebracht war, spielt in der Ausstellung eine Rolle. Es hatte den Krieg relativ gut überstanden, wurde aber in den 1960-er Jahren abgerissen, um einem Hotel Platz zu machen. Bild- und Texttafeln an der Haltestelle Schillstraße informieren in deutscher und englischer Sprache, wie hier, in einem vom Jüdischen Brüderverein erbauten Wohnhaus, die verniedlichend "Evakuierung oder Verschickung" genannte Deportation von Millionen Juden in die Vernichtungslager vom SS-Obersturmbannführer Eichmann und seinen Mitarbeiter organisiert und mit welcher Eiseskälte bis in die letzten Kriegswochen die Transporte mit der Reichsbahn durchgeführt wurden.

Die aufrüttelnde Ausstellung ehrt neben Joseph Wulf den Vorsitzenden des Aktiven Museums und Gründungsdirektor der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Gerhard Schoenberner, der wenige Tage vor der Eröffnung einer Eröffnung zum 100. Geburtstag von Wulf starb. Im Unterschied zur Haltung der deutschen "Mehrheitsgesellschaft" wollten sich Wulf, Schoenberner und andere nicht damit abfinden, über die schlimmsten Jahre der deutschen Geschichte den Mantel des Vergessens zu breiten. Indem die Ausstellung im Foyer der Topographie an sie erinnert, würdigt sie die Arbeit vieler Ungenannter, die die Vergangenheit in angemessener Weise bewältigt haben und es heute durch nimmermüde Aufklärung und Forschung tun.

Große Aufmerksamkeit fand 2013 das Gedenkaktion "Zerstörte Vielfalt" anlässlich des 80. Jahrestage der Machtübernahme der Nationalsozialisten (1933) und der 75. Jahrestag der Novemberpogrome (1938). Zahlreiche über die ganze Stadt verteilte und mit Bildern und Texten beklebte Litfaßsäulen schilderten die verheerenden Auswirkungen der nationalsozialistischen Diktatur für das gesellschaftliche Leben in Berlin. Unterstützt durch Museen, Gedenkstätten, Vereine und Privatpersonen wurde geschildert, mit welcher Brachialgewalt die Nazis nach dem 30. Januar 1933 Alltag, Wirtschaft und Verwaltung, Handwerk und Gewerbe, Medien und Bildungswesen, Kultur, Kunst, Wissenschaft und die Kirchen sowie die Freizeitgestaltung, Sport und Vereine, kurzum nahezu alle öffentlichen und privaten Lebensbereiche "gleichgeschaltet" haben, wie man damals sagte. Es wurde aber auch gezeigt, wer und wo Widerstand leistete und hohe Opfer erbringen musste.

14. November 2017

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