Den Tätern ist kaum etwas geschehen
Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde wurden am Internationalen Holocaust-Gedenktag geehrt



Rote Rosen schmücken den Gedenkstein vor dem Haus Nazareth in der Steglitzer Wrangelstraße. Das Haus Nazareth beherbergt Arztpraxen, aber auch den Verein Philosophia Europa, dessen Mitglieder Menschen aus allen Kulturen Wege für einen lebendigen Glauben eröffnen wollen. (Fotos: Caspar



André Schmitz und Nina Lorck-Schierning leiten den Beifall für die Buchlesung Inge Deutschkron weiter.

Der Deutsche Bundestag und vielen Landtage haben am 27. Januar, dem Internationalen Holocaust-Gedenktag, an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Im Mittelpunkt der Ansprachen standen die mindestens 300.000 Menschen mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen oder unheilbaren Krankheiten, die das NS-Regime ermorden ließ. Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte, der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff "Euthanasie" beschönige die Tötung von Menschen, die als nicht als lebenswert erachtet wurden. Nach 1945 seien nur wenige Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern, die am Mord an Kranken und Behinderten beteiligt waren, vor Gericht gestellt worden. Hunderte Ärzte und Krankenpfleger hätten ihr Tun bruchlos in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten fortgesetzt. Viele Verfahren seien wegen Verjährung oder dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten mit Freisprüchen beendet worden. Bedenke man, dass als Spätfolge der NS-Todesmaschinerie in manchen Anstalten noch 1948 die Sterberaten bei über 30 Prozent und damit weit über dem Normalwert lagen, wirke die Milde der Justiz auch heute schlicht und einfach nur skandalös. In der NS-Zeit habe es nur wenig Aufbegehren gegen die systematische Tötung der als "lebensunwert" verunglimpften Kranken und Beeinträchtigten gegeben. Viele hätten sich damals zu Komplizen dieser Verbrechen gemacht. Durch die "Euthanasie" sei der hippokratische Eid pervertiert worden, und es sei beschämend, dass sich Politik und Wissenschaft so lange mit diesem Thema nicht befasst haben.

Deutschland gedenke der Sinti und Roma, der Millionen versklavter Slawen, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Homosexuellen, der politischen Gefangenen, der Christen, der Zeugen Jehovas und all derer, die wegen ihrer religiösen und politischen Überzeugungen von der nationalsozialistischen Ideologie zu Feinden erklärt, verfolgt und ermordet wurden. Lammert erinnerte auch an diejenigen, "die mutig Widerstand leisteten oder anderen Schutz und Hilfe gewährten". Er erinnerte an die Wannseekonferenz vor 75 Jahren, auf der die Organisation des Massenmordes mit unfassbarer Menschenverachtung ausgearbeitet wurde. Das Töten mit Gas sei zuerst an den Opfern der "Euthanasie" erprobt worden. Zwischen diesem Massenmord und dem Völkermord an den Juden gebe es einen engen Zusammenhang. Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 spiegele "jene zynisch technokratische Unmenschlichkeit und ideologisch verbrämte Barbarei wider, die neben Juden auch andere Gruppen unschuldiger Menschen traf", so Lammert.

Am gleichen Tag hatten der Förderverein "Blindes Vertrauen e.V." und das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt zu einer Gedenkstunde und Buchlesung in die ehemalige Jüdische Blindenanstalt, Wrangelstraße 6-7 in Berlin-Steglitz, eingeladen, um der ermordeten jüdischen Mitarbeiterinnen und Miterbeitern der Bürstenfabrik in der Rosenthaler Straße unweit des S-Bahnhofs Hackescher Markt zu gedenken. Vor dem Haus Nazareth liegt ein noch ganz blanker Stolperstein im Boden, der an einen der von den Nazis deportierten und ermordeten Juden erinnert. In den kommenden Monaten sollen vor dem Haus weitere Messingplatten an Menschen erinnern, die hier in der NS-Zeit zeitweilig Schutz und Arbeit fanden. Ein mit roten Rosen geschmückter Gedenkstein macht auf die Vergangenheit des Hauses aufmerksam und fordert die Passanten zum Innehalten und Nachdenken auf.

So gern sie gekommen wäre, der 95jährigen Holocaust-Überlebenden Inge Deutschkron war es diesmal nicht möglich, bei der Feierstunde aus ihrem Roman "Das verlorene Glück des Leo H." zu lesen. Diese Aufgabe übernahmen André Schmitz, der frühere Berliner Kulturstaatssekretär und stellvertretender Vorstandsvorsitzende des Fördervereins der Blindenwerkstatt Otto Weidt, und Nina Lorck-Schierning. In dem Buch geht es um das Schicksal des Juden Leo Hauser und seiner Familie vor und nach 1945 und um die Frage, wie ein verbrecherisches Regime Leben zerstören kann, auch wenn seine Opfer es überlebt haben. Während des Zweiten Weltkriegs in der als kriegswichtig eingestuften Bürsten- und Besenfabrik von Otto Weidt unter falschem Namen arbeitend, entkam Inge Deutschkron dem Zugriff der Gestapo und tauchte mit ihrer Mutter bei Kriegsende unter. Mit bewegenden Worten hat sie über ihre Erlebnisse in dem Buch "Ich trug den gelben Stern" und weiteren Publikationen, aber auch in Reden und Vorträgen berichtet.

Inge Deutschkron kannte Leo Hauser, ja fast hätte sie ihn geheiratet. Viele Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft stieß die Journalistin und Buchautorin in Israel auf Hausers Lebensspuren und erfährt, dass er Auschwitz überlebt hatte und sich in der Nachkriegszeit als Arzt im geteilten Berlin eine neue Existenz aufgebaut hatte und bei einer Reise in Israel gestorben war. Die Lebensgeschichte des früheren Freundes und die seiner aus Frankreich in die Schweiz geretteten Tochter Riwka bildet den Stoff, aus dem der Roman über ein Leben zwischen Angst und Hoffnung und den Mühlsteinen des Kalten Krieges gemacht ist. Dass Otto Weidts Mut und die Art und Weise, wie er einige seiner jüdischen Mitarbeiter mit viel List und noch mehr Glück gerettet hat, öffentlich gemacht wurde und aus der alten Bürstenfabrik eine Gedenkstätte werden konnte, ist wesentlich Inge Deutschkron zu verdanken. Ganz gewiss wird sie ein paar Kilometer weiter den dankbaren Beifall der zu der Feierstunde und Buchlesung im Haus Nazareth Wrangelstraße 6-7 erschienenen Gäste vernommen haben.

27. Januar 2017 Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"