"Bei den Nazis hätten wir dich schon längst durch den Schornstein gejagt"
Ein neues Buch deckt auf, wie die BBC London mit der Sendereihe "Briefe ohne Unterschrift" die Stasi in Rage brachte



Im Innentitel des Buches von Susanne Schädlich sind einige nach London gelangte oder von der Stasi abgefangene Briefe ohne Unterschrift abgebildet.



Diese Briefe wurden zwar nicht an die BBC London gerichtet, sondern an den RIAS, den Rundfunk im Amerikanischen Sektor. Sie wurden von der Stasi abgefangen, und wann immer die Absender identifiziert wurden, hat man sie wegen staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme inhaftiert.



Wer in der Stasi-Untersuchungshaftanhalt Berlin-Hohenschönhausen gelandet war, war komplett isoliert und ganz und gar der Willkür der Wächter schutzlos ausgeliefert.



Viele Gefangene saßen in solchen Räumen ihren Vernehmern gegenüber und deren Lockangeboten und Erpressungen ausgesetzt. Ziel aller Mühen war ein schriftliches "Geständnis".



Die Gefangenen wurden im so genannten Grotewohlexpress quer durch die DDR gefahren. Der Name des in Hohenschönhausen ausgestellten Transportzuges soll wohl auch vom Wort Geratewohl, also von der dabei empfundenen Richtungslosigkeit bei den Fahrten abgeleitet worden sein. (Fotos/Repro: Caspar)

Wer in der Nazizeit die BBC London hörte und dabei erwischt und angezeigt wurde, war in vielen Fällen des Todes. Den Feindsender heimlich zu hören, wurde als Rundfunkverbrechen geahndet, und dennoch haben es viele Deutsche getan, um zu wissen, wie der Kriegsverlauf ist und welche Gebiete die Wehrmacht aufgeben musste. Manche BBC-Hörer blieben dem Sender nach 1945 treu, und wie noch in der Hitlerdiktatur gingen auch in der Sowjetischen Besatzungszone und ab 1949 in der DDR Schnüffler durch die Häuser, um Freunde der BBC, des RIAS und anderer von der Regierung und dem Ministerium für Staatssicherheit als hochgefährliche Hetzmedien eingestufter Sender ausfindig zu machen und anzuzeigen. Die Folgen für die Betroffenen waren verheerend, Todesurteile aber wie in der Zeit des Nationalsozialismus hat es nicht mehr gegeben. Zwischen 1949 und 1974 haben Sprecherinnen und Sprecher der BBC London jeweils am Freitagabend aus "Briefen ohne Unterschrift" gelesen, die den Sender auf verschlungenen, oftmals sehr gefährlichen und unsicheren Pfaden erreicht hatten. Sie machten sich der ungesetzlichen und staatsfeindlichen Verbindungsaufnahme schuldig und wurden zu schweren Strafen verurteilt, wenn die Stasi und die Polizei ihrer habhaft wurden Der Paragraph 219 des DDR-Strafgesetzbuches wurde genutzt, Kontakte in nicht sozialistische Staaten und vor allem zu Medien und Parteien in der Bundesrepublik Deutschland zu verfolgen und zu bestrafen. Als Staatsverbrechen galt: "1. wer Nachrichten, die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden, im Ausland verbreitet oder verbreiten lässt oder zu diesem Zweck Aufzeichnungen herstellt oder herstellen lässt, 2. wer Schriften, Manuskripte oder andere Materialien, die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden, unter Umgehung von Rechtsvorschriften an Organisationen, Einrichtungen oder Personen im Ausland übergibt oder übergeben lässt." Eine ähnlich dehnbare Funktion hatte auch der Paragraph 245 zum Thema "Geheimnisverrat".

Material in 233 Aktenordnern

Mit verstellter Schrift oder mit der Schreibmaschine verfasst und manchmal auch durch Zeitungsausschnitte ergänzt, schildern DDR-Bewohner von Rentnern bis zu Schülern, wie es ihnen im zweiten deutschen Staat ergeht und wie sehr sie unter der Bevormundung durch die allmächtige SED leiden. Für ihr Buch "Briefe ohne Unterschrift" hat die Berliner Schriftstellerin Susanne Schädlich das in 233 Aktenordnern versammelte Material gelesen und zu einem beeindruckenden Panorama der Zustände im Staat der Arbeiter und Bauern verarbeitet, wie die DDR sich selber nannte. Das Buch zitiert ausführlich aus zahlreichen anonym oder pseudonym an die BBC geschickten Briefen und schildert, wie die Stasi und DDR-Justiz versuchten, die Sendungen an Deckadressen im britischen Sektor von Westberlin und an "tote Briefkästen" zu unterbinden und die am Savignyplatz 6 tätige Berlin-Redaktion auszuhorchen, zu unterwandern und zu paralysieren, was aber nicht gelungen ist. Leider ist das Buch nicht illustriert. Als Leser hätte man gern in die Gesichter derer geschaut, die die Sendung in London und Berlin moderiert und die für sie in der DDR zusätzliche Informationen beschafft haben, und vielleicht auch einen Blick auf jene Zuschriften g getan. Das Buch erschien im Münchner Knaus-Verlag, hat 285 Seiten und kostet 19,90 Euro (ISBN 978-3-8135-0749-2). Wie einige Briefe ausgesehen haben, kann man lediglich dem Innentitel des Buches vor und hinten entnehmen.

Staatssicherheit und DDR-Kriminalpolizei taten alles mit den damals modernsten Methoden der Schrifterkennung und Textanalyse, aber auch der Auswertung von Blutgruppen sowie von Speichelproben, Fingerabdrücken, Tintenfarben und anderen Merkmalen, um die Schreiber in der DDR abgefangener Briefe zu identifizieren und vor Gericht zu stellen. Das ging manchmal recht leicht, weil die Absender ziemlich ungeschminkt die Zustände in einem Betrieb oder in einer noch halb zertrümmerten Stadt sowie die schäbigen Auslagen in einem bestimmten Laden oder unfreundliche Kellner in einem Restaurant beschrieben haben. Susanne Schädlich zitiert zudem aus Briefen, die die BBC nicht erreicht haben, sondern bei der Stasi und ihrer über das ganze Land verteilte Postkontrolle gelandet waren. In allen Briefen stehen aufschlussreiche Dinge, die in den üblichen Geschichtsdarstellungen über die DDR kaum vorkommen. Immer wiederkehrende Themen sind die miserable Versorgung der Bevölkerung, die ewigen Paraden und der Dienst bei den "bewaffneten Organen", zu dem junge Männer mit Tricks und Zwang genötigt wurden.

Alles in allem wird viel über das ostdeutsche "Bonzen- und Halunkensystem" und seine sowjetischen Beschützer geklagt, doch auch die Niederschlagung der Volkserhebungen in der DDR 1953 und 1956 in Ungarn sowie die Niederschlagung des "Prager Frühlings" 1968 werden mit zum Teil heftigen Worten angeprangert. Immer wieder wird die BBC aufgefordert, alles dafür zu tun, dass die Menschen im deutschen Osten von den Westmächten nicht allein gelassen und abgeschrieben werden. In dem Buch kommen auch offensichtlich fingierte und gefälschte Briefe vor, die mit warmen, ja enthusiastischen Worten die Politik der SED loben und die gelegentlich auch von der BBC verlesen wurden. Das hat heftige Reaktionen bei deren Stammhörern ausgelöst, und feuerte die über den Sender geführte Diskussionen über die Probleme im zweiten deutschen Staat an. Die Wortwahl dieser "linientreuen" Schreiben deutet darauf hin, dass sie aus der Giftküche des Ministeriums für Staatssicherheit stammen.

Mielkes Leute schrieben eifrig mit

Besonders bringt es die Briefschreiber die penetrante Siegespropaganda für den SED-Sozialismus und die Sowjetunion auf die Palme und die wüste Hetze gegen den westdeutschen Imperialismus. Die Autorin zitiert aus den Briefen, die tatsächlich die BBC erreicht haben, aber auch aus Mitschriften, die Stasileute während der jeweiligen Rundfunksendungen angefertigt haben. Alle diese Aufzeichnungen, aber auch Spitzelberichte und andere Dokumente aus Mielkes Geheimdienst sind im Buch durch eine Schreibmaschinenschrift grafisch von den übrigen Schilderungen der Verfasserin hervorgehoben. Hingegen sind die zitierten Briefe der besseren Unterscheidbarkeit halber kursiv gesetzt.

Ausführlich schildert das Buch das Schicksal eines Jugendlichen, der aus Greifswald "Briefe ohne Unterschrift" an die BBC geschickt hatte. In einem dieser Schreiben heißt es: "Wenn man so mit den Leuten spricht, findet man doch kaum einen, der wirklich von diesem Staat begeistert ist. Ich kann mir diese Tatsache nur erklären, dass dies nur auf die Angst der einzelnen Bürger zurückzuführen ist. […] Ich kann dann nur immer wieder einzelne Menschen im Nationalsozialismus bewundern, die trotz dieser Angst wider das Regime gekämpft haben. Ich hätte daher eine Bitte, dass andere Hörer hierzu ihre Meinung schreiben. Es grüßt Sie herzlich ein Schüler." Die Stasi kam dem jungen Mann auf die Schliche, besorgte sich Schriftproben von ihm und nahm ihn fest, als es noch dunkel war. Er wurde von der Schule verwiesen und kam in Stasi-Haft, die er an verschiedenen Orten und auch zur Zwangsarbeit eingesetzt verbüßte. Erstaunlicherweise konnte dieser Karl-Heinz Borchardt nach der Entlassung in Greifswald sein Abitur nachholen, studieren und sogar seinen Doktor machen. Der Philologe arbeitet heute an der Uni Greifswald. Ich habe in dem Buch nichts darüber gefunden, wie er seine Briefe von damals wertet. Warum die Autorin nicht auch dieser Frage nachgegangen ist und generell was aus Schreibern von damals geworden ist, die man sicher hätte ausfindig machen können, wird nicht weiter behandelt.

Erstaunlich und entlarvend ist, was einem Vernehmer in Halle Borchardt gegenüber entfuhr. Ob er jene Briefstelle über mutige Widerständler während der Nazizeit im Sinn hatte, als er dem Gefangenen zynisch ins Gesicht sagte: "Bei den Nazis hätten wir dich schon längst durch den Schornstein gejagt"? Dass der Leutnant des Ministeriums des Innern von "wir" sprach, sagt viel über den angeblich humanen Strafvollzug in der DDR. Ob der Mann und all die anderen Büttel das Buch über die Briefe ohne Unterschrift je lesen werden, lässt sich nicht sagen. Die meisten müssten noch am Leben sein. Im Übrigen wird die Einstellung der Sendereihe 1974 in dem Buch nicht klar begründet, es könnte sein, dass der Verzicht der BBC auf "Briefe ohne Unterschrift" und weitere Informationen wie "Aus Ostberliner Zeitungen" mit der 1973 erfolgten Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der DDR und Großbritannien zu tun hat. Ich erinnere mich, wie irgendwann im Jahr 1999 die Ansage "This is London Calling", kombiniert mit den Morsezeichen für V wie Victory, ganz verstummte. Einsparungen wurden damals als Grund genannt, auch veränderte Hörgewohnheiten. Doch das ist schon wieder Thema eines anderen Buches.

11. April 2017

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