Komparsen wurden ermordet
Die SS hat das KZ Theresienstadt dem Roten Kreuz als gemütliches Altersgetto für Juden präsentiert und dazu einen Propagandafilm drehen lassen



Um den Gefangenen die Angst zu nehmen und sie zu disziplinieren, gab die SS in Theresienstadt wie in anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern die Parole "Arbeit macht frei" aus.



Nach den Dreharbeiten wurde der ehemals in seiner Heimat gefeierte Kurt Gerron in Auschwitz umgebracht. Die Szene zeigt ihn und Marlene Dietrich in "Der blaue Engel".



Im Propagandafilm über das KZ Theresienstadt unweit von Prag wurde so etwas wie Normalität inszeniert.



Die froh gestimmten Gefangenen stets mit dem gelben Judenstern auf der Brust wurden wie die meisten Akteure nach den Dreharbeiten in Auschwitz umgebracht.



Gleis 17 auf dem Bahnhof Grunewald erinnert an die vielen tausend Berliner Juden, die von hier aus während des Zweiten Weltkriegs nach Theresienstadt, Auschwitz und die anderen Konzentrations- und Vernichtungslager in den Tod deportiert wurden.



Zahlreiche in Berlin und an anderen Orten ausgelegte Stolpersteine erinnern an Juden, die nach Theresienstadt und in andere Konzentrationslager deportiert wurden und dort ermordet wurden. Diese Messingplatten sind vor dem Haus Oranienburger Straße 46/47 in Berlin-Mitte ausgelegt.



"Kurt Gerron - Gefangen im Paradies" ("Prisoner of Paradise") ist ein oscarnominierter Dokumentarfilm von Malcolm Clarke und Stuart Sender aus dem Jahr 2002. In Deutschland lief der Film erstmals am 14. März 2004 im Fernsehen. (Fotos/Repros: Caspar)

Ende des 18. Jahrhunderts wurde in der Nähe von Prag eine Garnisonsstadt gegründet, die 150 Jahre später zu trauriger Berühmtheit gelangte - Theresienstadt. Kaiser Joseph II. gab der befestigten Anlage den Namen seiner Mutter, der 1780 verstorbenen Kaiserin Maria Theresia. Nach der Besetzung der Tschechischen Republik durch die deutsche Wehrmacht und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren (1938) wurden in der zum Getto und Konzentrationslager umgewandelten Stadt die ersten von über 100 000 Juden interniert. Die "Kleine Festung" in der Nähe des Gettos unterstand der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Prag.

In Theresienstadt waren jüdische und nichtjüdische Gefangene hauptsächlich aus dem Protektorat interniert. Die meisten Menschen waren Tschechen, doch viele kamen auch aus Deutschland sowie aus den von den Nazis okkupierten Ländern in Westeuropa. Unter der Aufsicht des Reichssicherheitshauptamtes wurde das Ghetto von der SS verwaltet, der Terror- und Mordorganisation unter dem Befehl von Reichsführer SS Heinrich Himmler. Das Wachpersonal bestand zum Teil aus Tschechen, mit deren Hilfe manche Insassen, wenn sie Glück hatten, Verbindung nach draußen aufrecht hielten.

Das Getto Theresienstadt war Durchgangsstation für jene Juden, die von hier aus in die Vernichtungslager weiter im Osten "abgeschoben" wurden. Doch wurde Theresienstadt auch gebraucht, um der Weltöffentlichkeit vorzugaukeln, hier befinde sich eine Art jüdische Mustersiedlung. Außerdem sollte der Hinweis auf das so genannte Altersgetto Theresienstadt die von Deportation betroffenen Juden beruhigen und ihnen Angst vor der "Umsiedlung" in den Osten nehmen. Diese sei nicht so schlimm, versprachen die Nazi-Behörden, doch war unter Juden durchaus bekannt, was sich hinter der Ortsangabe Theresienstadt verbirgt. Die Inschrift über dem Lagertor "Arbeit macht frei" wollte den Gefangenen sagen, dass sie durch ehrliche und angestrengte Arbeit eines Tages wieder ihre Freiheit erlangen werden. Auch in anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern wurde diese Lüge verbreitet.

Delegation ließ sich täuschen

Im Juli 1944, als in der Welt längst bekannt war, was in den Todeslagern geschieht, erlaubte die NS-Führung einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes (IRK) den Besuch von Theresienstadt. Die Inspektion wurde minutiös vorbereitet, den Insassen wurde verboten frei zu reden. Um zu beweisen, dass es keine Überbelegung gibt, wurden Häftlinge nach Auschwitz deportiert und ermordet. Die SS richtete zum Schein gemütliche Läden ein, ein Café, eine Bank, Kindergärten, eine Schule. Es gab sogar Gärten mit Blumen. Es gab Musikabende, und es wurde Theater gespielt. Alles sollte so normal wie möglich aussehen. Inspektoren vom IRK besuchten Theresienstadt am 23. Juni 1944. Sie sich durch die falschen Fassaden vollständig täuschen und gaben positive Bewertungen Berichte ein. Die Nazipropaganda durfte sich über diesen Sieg freuen, denn das IRK verzichtete darauf, andere Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten zu inspizieren, insbesondere Auschwitz. Den Emissären blieb verborgen, dass bis Kriegsende noch 18 000 Juden von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert wurden.

Einige Wochen nach dem Besuch der Rot-Kreuz-Delegation drehte die SS den Propagandafilm "Theresienstadt", um der Weltöffentlichkeit vorzugaukeln, hier befinde sich eine Art jüdischer Mustersiedlung und das Leben der Bewohner verlaufe dort friedlich und fröhlich, ja sogar ungestörter als in den Städten, die von alliierten Bombern heimgesucht werden. Die NS-Schergen bedienten sich als Regisseur des in der Weimarer Republik gefeierten Berliner Schauspielers, Regisseurs und Kabarettisten Kurt Gerron. Weil er Jude war, seine Arbeit verloren hatte und um sein Leben fürchten musste, war er ins niederländische Exil gegangen, wo er weiter als Filmemacher erfolgreich war. Nach Kriegsbeginn geriet Gerron in die Fänge der Gestapo und wurde erst nach Westerbork gebracht, das Konzentrations- und Durchgangslager für niederländische Juden auf dem Weg nach Auschwitz, und dann nach Theresienstadt.

Jede Szene ist eine einzige Lüge

Dort zwang die SS den Regisseur, mit jüdischen Mitgefangenen den pseudo-dokumentarischen Film "Theresienstadt - Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet" zu drehen. Später unter dem inoffiziellen Namen "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" bekannt geworden, spiegelt der öffentlich nie aufgeführte, nur in Fragmenten überlieferte Streifen friedliches und fröhliches Zusammenleben der Gefangenen bei Sport und Spiel, gemütlichem Kaffeetrinken und Gartenarbeit vor, doch war jede Szene gestellt und eine einzige Lüge. Obwohl Gerron in Auschwitz ermordet wurde, sind Dokumente zu dem Film erhalten. Das betrifft einen von Gerron verfassten Entwurf des Filmes, zwei Versionen des Drehbuchs, Informationen über die geplanten Dreharbeiten, Berichte an die SS-Kommandantur für jeden der elf Drehtage, der Entwurf für den Kommentartext, Notizen und Mitteilungen von Gerron sowie Befehle des Lagerkommandanten SS-Obersturmführer Karl Rahm an den Regisseur und weitere Informationen.

Mehrere hundert Statisten, darunter auch prominente Juden, traten in dem Film auf. Die entsprechenden Sequenzen sind die letzten Aufnahmen, die sie noch lebend zeigen. Die Filmmusik wurde im August und September 1944 in Anwesenheit von Gerron und des Komponisten Peter Deutsch aufgenommen. Beteiligt waren das von Karel An?erl dirigierte Orchester sowie ein aus Kindern bestehender Gefangenenchor und die Jazzband "Ghetto Swingers". Überlebende berichteten später, dass ihnen die Arbeit an dem zur Täuschung des Internationalen Roten Kreuzes und der Weltöffentlichkeit gedrehten, am Ende dann aber für die SS nutzlosen Film, aber auch Aufführungen des Ghettokabaretts "Karussell" sowie von klassischer Musik, Operetten und sogar von Jazz geholfen habe, die Angst vor den Todestransporten für kurze Zeit zu vergessen. Nach dem Ende der von der SS streng überwachten Dreharbeiten wurden der Regisseur und weitere Mitwirkende in Auschwitz ermordet. Als Einziger seiner Familie und fast aller Darsteller des Films überlebte Karel An?erl die Todesfabrik im besetzten Polen. Der Film hatte eine Länge von 2400 bis 2500 Metern und eine Dauer von etwa 90 Minuten. Die Filmmusik bestand auf Befehl der SS fast ausschließlich aus Stücken jüdischen Komponisten wie Mendelssohn und Offenbach.

Rekonstruktion der Fragmente

Überbelegung des KZ Theresienstadt, fehlende sanitäre Einrichtungen und der alltägliche Hunger lösten bei den Gefangenen Krankheiten und Seuchen aus, die viele Opfer forderten. 1942 starben in Theresienstadt 15 891 Personen. Das war die Hälfte der durchschnittlichen Gesamtbevölkerung. Die anderen lebten in ständiger Angst und Schrecken vor der Deportation in den Osten. Noch vor Kriegsende gelang es dem Internationalen Roten Kreuz, einige Gefangene in neutrale Länder zu schaffen. Am 3. Mai 1945, fünf Tage vor der Befreiung durch die Rote Armee, übergab die SS Theresienstadt dem Roten Kreuz und setzte sich ab.

Nach dem Krieg war der Film zunächst nicht auffindbar. Aus Berichten von Überlebenden war nur bekannt, was 1944 aufgenommen wurde, aber nicht wie fertige Film wirklich aussieht. Die Handlung ergibt sich aus Dokumenten, die der Auswahl der Filmmusik zugrunde lagen. Bis auf fünf werden alle Filmsequenzen mit den Längen in Metern und Sekunden aufgelistet. Diese und weitere Unterlagen sowie Augenzeugenberichte erlaubten es, den Film aus da und dort aufgefundenen Fragmenten zu rekonstruieren und für öffentliche Aufführungen und zur Nutzung in der Forschung zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocausts aufzubereiten.

26. September 2017

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