"Demokratie jetzt oder nie"
DDR-Bürgerrechtler investierten 1989/90 viel Scharfsinn und Sprachwitz in Transparente, Karikaturen und Sprechchöre





Die Massenversammlung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 war die größte in der DDR, bei der 500 000 Menschen freiwillig zusammenkamen, um für demokratische Rechte, freie Wahlen, offene Grenzen und das Ende der SED-Herrschaft zu demonstrieren und mit Spott und Hohn auch Dampf aus dem Kessel zu lassen. Die Staatsmacht wagte nicht einzuschreiten.



Die bei der Demonstration vom 4. November 1989 und bei anderen Massenprotesten mitgeführten Transparente werden im Deutschen Historischen Museum Unter den Linden 6 in Berlin gezeigt.





Erich Honecker, der erst vor kurzem abgehalfterte SED-Chef und Staatsratsvorsitzende, als Häftling Nummer 001, so hätten viele Menschen den mächtigsten Mann in der DDR am liebsten gesehen. Wie Honecker wurden auch sein "Ziehsohn" und Nachfolger Egon Krenz massiv angegangen.



Freie Wahlen, Wiedervereinigung, Reisefreiheit und andere Forderungen standen im Mittelpunkt von Protestveranstaltungen quer durch die DDR. (Fotos/Repros: Caspar)

Die friedliche Revolution im Herbst 1989 ging von Leipzig aus, das steht außer Frage. Was sich damals in der Buch-, Messe- und Universitätsstadt abgespielt hat, ist in Filmen und Büchern gut dokumentiert und wird, wenn 2019 der 30. Jahrestag des Mauerfalls und des Endes der SED-Diktatur gefeiert wird, erneut in Erinnerung gerufen. Die SED und Regierung und mit ihr die Staatssicherheit hatten allen Grund, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die konterrevolutionären Vorkommnisse, wie es in damaligen Berichten und Befehlen heißt, zu richten und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Tausende Sicherheitsleute standen in Leipzig einer wachsenden Zahl von friedlich demonstrierenden Leipzigern gegenüber. Erst waren es ein paar hundert, zum Schluss mehrere zehntausend. So viel Stasileute und Volkspolizisten konnten nicht aufgeboten werden, um den Massenprotest quer durch die Messestadt aufzuhalten. Wenn auch Lautsprecher zur Abschreckung brüllten und die Schlägertrupps mit und ohne Uniformen auf die Menge losgingen - die Rufe nach "Demokratie - jetzt oder nie" oder "Rechtssicherheit statt Staatssicherheit" ließen sich nicht übertönen.

Die Leipziger und sicher auch viele Zugereiste investierten viel Scharfsinn und Sprachwitz in Transparente und Sprechchöre. Sie hatten als Bewohner einer von den Gebrechen der DDR-Wirtschaft und Politik, von mangelhafter Infrastruktur, von Verfall und Umweltbelastung durch nahe gelegene Energieerzeuger und Chemiebetriebe gezeichneten Stadt besonders zu leiden und erlebten am eigenen Leib die Diskrepanzen zwischen öffentlicher Schönfärberei zweimal im Jahr während der Messe, wenn Westdeutsche und ausländische Besucher vorbei kamen, und dem tristen Alltag. Hinzu kam, dass sie täglich erleben mussten, wie die letzten Ressourcen des Landes nach Ostberlin gepumpt wurden, das als "Hauptstadt der DDR" und sozialistisches Aushängeschild herausgeputzt und in vielfältiger Hinsicht herausgeputzt wurde, vor allem was die Versorgung mit Lebensmitteln, Waren des täglichen Bedarfs und Baumaterial betraf. Das schuf Gefühle von Neid und Ohnmacht, und diese brachen sich in den Montagsdemonstrationen und anderen oppositionellen Aktivitäten Bahn.

Mehr und mehr Mut gefasst

Was in den dramatischen Wochen im Herbst 1989 geschrieben und skandiert und was natürlich sofort von den in den Massenversammlungen stationierten Spitzeln notiert und nach Ostberlin weitergemeldet wurde, bildet die Erwartungen der sowohl unzufriedenen als auch hoffnungsvollen Menschen in eine demokratische Wende ab, die diese Bezeichnung verdient. Die Menschen fassten mehr und mehr Mut, konnten sich auf angesehene und für die Stasi unangreifbare Persönlichkeiten wie den weltbekannten Dirigenten Kurt Masur und den Pfarrer an der Nikolaikirche Friedrich Magirius berufen.

In seiner Dokumentation mit dem etwas sperrigen Titel "Leipziger Demontagebuch - Demo Montag Tagebuch Demotage" hat Wolfgang Schneider aufgeschrieben und durch eindrucksvolle Fotos belegt, was sich 1989/90 in "Leipzig, der Heldenstadt der DDR" zutrug. "Der Straßenzug um die Innenstadt wurde mit seinen von Montag zu Montag lawinenartig anwachsenden Demonstrationszügen zum Symbol eines kämpferisch erfochtenen Erneuerungsgedankens, der mehr und mehr auf das ganze Land ausstrahlte", schrieb Schneider 1990 noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse und auch in Unkenntnis der Verwerfungen und Probleme, die der Wiedervereinigung folgten. Der demokratische Aufbruch werde als Oktoberrevolution 1989 in die Geschichtsbücher eingehen, seine welthistorische Einmaligkeit gewinne er aus dem Umstand, "dass unorganisierte Volksmassen in führerloser Spontaneität gegen ein von ihnen vermeintlich getragenes gesellschaftliches System auftraten".

Das Meinungs- und Erwartungsspektrum der Leipziger war breit, die wichtigsten Parolen gaben ihre wichtigste Forderung wider. Den mit Knüppeln und Wasserwerfern bewaffneten Schlägern wurde "Keine Gewalt" und "Wir sind das Volk" entgegen gerufen. Die Parteiführer in der SED-Bezirksleitung beziehungsweise in Berlin standen vor der Frage, ob sie durch Gewaltanwendung, vielleicht sogar durch ein Blutbad, die Stimmung weiter anheizen und der auch von ihnen als unausbleiblich erkannten "Wende" eine schlimme Hypothek auferlegen oder ob nicht besser ist, die Lage durch Zurückhaltung und Gewährenlassen zu deeskalieren, was dann im Wesentlichen auch geschah.

Egon mach die Grenze auf

Beim Betrachten der Plakataufschriften, beim Hören der Rufe kann man eine zunehmende Politisierung der Proteste feststellen. Zu lesen und zu hören waren "SED das tut weh", "Polizisten schließt euch an" und "Ökologie statt Ökonomie". Schon bald hieß es "Erich lass die Faxen sein / hol die Perestroika rein", "Die Mauer muss weg" und nach dem Machtwechsel an Krenz gewandt "Egon leit Reformen ein, sonst wirst du der nächste sein", "Egon mach die Grenze auf" oder "Krenzt nicht das Neue Forum aus" sowie "Demokratie unbekrenzt". Mit Blick auf die unmittelbaren Unterdrücker hieß es "Stasi in die Kohle" sowie "Stasi in die Stanze". Das Ende der DDR wurde mit "Deutsche Demagogische Republik - nie wieder" beschworen. Da Reisefreiheit im Forderungskatalog immer ganz oben stand, haben Leipziger Demonstranten Sprüche wie "Reisefreiheit und Reformen wollen wir heute und nicht erst morgen" und "Mit dem Fahrrad durch Europa aber nicht als alter Opa".

Das Gerede, das Egon Krenz und seine Mannschaft mit der "Wende" veranstaltete war zu durchsichtig, als dass es nicht auch bei den Montagsdemonstrationen thematisiert worden wäre. Als endlich am 9. November 1989 die Mauer gefallen war, gingen die Proteste weiter. Alles bewegte sich auf die deutsche Einheit zu. Stimmen, die vor einem neuen "Großdeutschland" warnten, gingen im Chor derer unter, die "Ein vereintes Deutschland im vereinten Europa" und "Deutschland einig Vaterland" riefen und dabei nichts anderes zitierten als eine Zeile aus der DDR-Hymne von Johannes R. Becher aus dem Jahr 1949. "Schluss mit den SED-Monarchen, wir lassen uns nicht mehr verarschen" und "40 Jahre Gemeinheit, jetzt wollen wir die Einheit" und "Das Land ist bald leer, Einigkeit muss her". Da sich im Windschatten der friedlichen Revolution nationalistische, antidemokratische und auch neonazistische Tendenzen zu entwickeln begannen, die sich in den neunziger Jahren zu schlimmen Gewaltexzessen auswuchsen, forderten Spruchbänder "Lieber rote Socken als braune Hemden", "Niemals Deutschland erwache" und "Kein 4. Reich".

Für Erich und Konsorten öffnet Bautzen seine Pforten

Dass der Zug in Richtung Wiedervereinigung fährt, war Ende 1998 unverkennbar, und auch dass die Lokomotive Bundeskanzler Helmut Kohl ist. Sein Konzept einer schnellen Vereinigung wurde von manchen Ostdeutschen als Zwang, Okkupation, Überstülpen eines fremden, feindlich empfundenen Systems, als Ausverkauf und Niedertrampeln von Errungenschaften angesehen, die es in der DDR trotz SED-Diktatur gab und die man sich nicht nehmen lassen wollte. Entsprechend wetterten Plakatinschriften und Sprechchöre "Wir lassen und nicht verKOHLen", Zehn Punkte von Kohl - außen glänzend, innen hohl" oder "Lieber das Land gereinigt als wiedervereinigt". Wie wir wissen, überholten die sich überstürzenden Ereignisse auch diese Sprüche, und es blieb aus anderen Gründen bei der auf Strafe für begangenes Unrecht zielenden Wunsch "Für Erich und Konsorten öffnet Bautzen seine Pforten", "Für Devisenprasser nur Brot und Wasser" und "Bonzen vor Gericht". Zwar hat man einigen den Prozess gemacht, aber die Ergebnisse wurden von der überwiegenden Mehrheit der Ostdeutschen als zu milde und ganz und gar unbefriedigend angesehen.

Der Plan, das nach dem Auswechseln von Spitzenfunktionären das angeblich "erneuerte" Staatsschiff DDR wieder in ruhige, sozialistische Fahrwasser zu lenken, ging nach allem, was nach Honeckers Sturz in der kurzen Ära Krenz über Machtmissbrauch, Stasispitzelei und Korruption, aber auch Rücktritten belasteter Funktionäre bekannt wurde, nicht auf. Es gärte weiter in der Bevölkerung, es hagelte Austritte aus der SED und den Blockparteien und der Einheitsgewerkschaft. Bei zahlreichen Demonstrationen überall im Land erklang machtvoll der Ruf "Wir sind das Volk" und "Keine Gewalt". Weiter kehrten tausende Bewohner der DDR den Rücken, die aus den Fugen geraten war.

29. August 2017

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