"Alle tanzen Lipsi"
Der systemkonforme DDR-Modetanz aus den 1960-er Jahren verschwand bald wieder in der Versenkung



Manche jungen Leute ignorierten in der NS-Zeit solche Verbote, grüßten einander mir "Swing heil" und machten sich über den angeordneten Musikgeschmack etwa mit diesem Goebbels gewidmeten Gedicht lustig: "Der kleine Joseph hat gesagt, / ich darf nicht singen / denn meine Band, die spielt ihm viel zu hot. / Ich darf jetzt nur noch Bauernwalzer bringen / nach dem bekannten Wiener Walzertrott".



Sehr gesittet, auch nicht immer ging es bei Tanzstunden und ebensolchen Veranstaltungen zu, die DDR-Plattenfirma Amiga lieferte die musikalische Untermalung.



Wie Damen und Herren den so genannten Lipsi-Schritt vollführen sollen, zeigt dieses Schema.



Der SED-Chef und Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht wusste ganz genau, was für die Jugend der DDR gut ist und wovor sie geschützt werden muss. Nur richtete diese sich nicht immer nach den parteiamtlichen Vorgaben.



In einem DDR-Lexikon aus dem Jahr 1959 ist zu lesen, was von "Ami-Musik" zu halten ist und dass sie die junge Generation nur von politischen Tagesfragen ablenken will.



So stellte man sich in DDR-Zeiten fröhliches Jugendleben vor, die Wirklichkeit sah weniger entspannt und locker aus. (Repros: Caspar)

Bereits in der Nazizeit wurden junge Leute von der Gestapo beobachtet und auch verhaftet, die heimlich so genannte "Ami-Musik" hörten und nach ihren Klängen tanzten. Was nicht dem offiziellen Musikgeschmack entsprach, wurde als entartet, undeutsch, jüdisch und bolschewistisch und alles zusammen verunglimpft, verboten und verfolgt. Selbstverständlich wurden die Verbote unterlaufen, und so haben unangepasste Jugendliche Jazz, Swing und andere als missliebig und subversiv eingestufte Musik gehört und gespielt. Als deutsche Rundfunkstationen ab und zu Jazzmusik spielten, legte der darüber entsetzte Goebbels 1941 fest, grundsätzlich sei Musik mit verzerrten Rhythmen und atonaler Melodienführung verboten, ebenfalls wurde die Verwendung von so genannten gestopften Hörnern untersagt. Der Propagandaminister lehnte Musik, die Melodien vernachlässige und verhöhne und nur noch das Rhythmische durch "übeltönendes Instrumentengequieke" betone und die Ohren beleidige, ganz und gar ab. Mit großem Ärger musste er allerdings registrieren, dass so genannte Feindsender mit ihrer "Niggermusik" schon deshalb gehört wurden, weil gerade sie diese vom NS-Regime verbotene Musik spielten.

Dreck, der aus dem Westen kommt

Ähnlich, wenn auch mit anderen Argumenten, gingen die SED-Oberen und der Staatsapparat gegen "amerikanische" Tendenzen im Musikleben der DDR vor. Das war nicht einfach, denn Rock ,n' Roll, Beat und weitere offiziell verbotene Töne wurde dort viel lieber gehört und gespielt als die von oben verordneten Kampfgesänge und die eher betulichen Melodien, die bei "bunten" Veranstaltungen, bei Tanz und Spiel vorgeschrieben waren. Wütend droschen die von der SED "angeleiteten" Medien auf den RIAS, den Rundfunk im Amerikanischen Sektor, und weitere westliche Rundfunksender ein, die genau das spielten, was SED-Chef Walter Ulbricht, der sich als oberster Kunstrichter der DDR empfand, und seine Genossen für ihre Untertanen als richtig und angemessen empfanden. Ulbricht fragt im Dezember 1965 rhetorisch, ob wir "jeden Dreck, der vom Westen kommt", kopieren müssen. Das Verbot von Rock, Twist und Beat hat nicht viel genutzt. In weiten Teilen der DDR konnte die Jugend das Programm des RIAS aus Westberlin hören und auch Westfernsehen empfangen. Es blieb auf Dauer den DDR-Verantwortlichen nichts anderes übrig, als neue westliche Trends zuzulassen, wenn auch widerwillig.

Die damals sehr populäre Rock-Ikone Bill Haley feierte im Westen einen Triumph nach dem anderen und füllte riesige Arenen und Säle, wurde aber von bestimmten westdeutschen Medien, die sich der Verteidigung von Moral und Anstand verschrieben hatten , als jugendgefährdend eingestuft. Der "Rheinische Merkur" nannte ihn einen "Kometen der Triebentfesselung". Andere konservative Blätter bezichtigten ihn eines Generalangriffs auf guten Geschmack, Anstand, Sitte und Selbstachtung. Entschieden brutaler gingen die DDR-Behörden und Medien gegen die ungewohnte Musik vor. So behauptete das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland", der "Rock 'n' Roll-Gangster Haley" habe in Westberlin eine "Orgie der amerikanischen Unkultur angerichtet." Bill Haleys Song "Rock Around The Clock" verdankte seinen Welterfolg dem MGM-Film "Die Saat der Gewalt". Er avancierte 1955 und 1956 zur Nummer 1 in den Hitlisten der USA, Australien, Großbritannien und in der Bundesrepublik Deutschland, dort als einziger nicht-deutschsprachiger Titel des Jahres.

Walter Ulbricht, der sich gern als Freund der Jugend feiern ließ, griff "die ewige Monotonie des ,yeah, yeah, yeah" an, bezeichnete sie als geisttötend und lächerlich. Der "Gegner" in der imperialistischen Bundesrepublik nutze diese Musik aus, hieß es in einer parteiamtlichen Kritik an die Adresse der FDJ-Führung, um durch die Übersteigerung der Beatrhythmen Jugendliche zu Exzessen aufzuputschen. Der schädliche Einfluss solcher Musik auf das Denken und Handeln von Jugendlichen werde grob unterschätzt. Der Zentralrat der FDJ übte Selbstkritik und versprach, die politisch-ideologische Bildungsarbeit unter den Jugendfreunden mit den blauen Hemden zu verstärken, was von diesen mit Unbehagen und innerem Widerstand quittiert wurde. Einige Jahre später wurde der von Ulbricht & Co. verdammte Beat in einer zahmen DDR-Version zugelassen. Und auch die als widerlich bezeichneten Jeans, in der DDR Nietenhosen genannt, wurden von Volkseigenen Betrieben hergestellt, allerdings von Jugendlichen dort Staat ungern getragen, weil sie billige Kopie erkannt wurde. Um Ost-Jeans in West-Jeans zu verwandeln, soll es vorgekommen sein, dass Etiketten von den echten auf die nachgemachten genäht wurden.

Beim Deutschlandtreffen 1964 in Ostberlin sendete zwar der Berliner Rundfunk neben sozialistischem Liedgut auch Songs der Beatles, und der DDR-Musikverlag Amiga begann, Beat-Platten zu veröffentlichen, die reißenden Absatz fanden. Doch als im September 1965 das aufgeheizte Publikum bei einem Rolling-Stones-Konzert in der Westberliner Waldbühne randalierte und großen Sach- und Imageschaden anrichtete, war auch im Ostteil der Stadt das Maß voll. Verboten wurden in der DDR fast 50 Beatbands und deren Konzerte. In Leipzig gab es im Oktober des gleichen Jahres eine "Beataufstand" genannte Demonstration für die Wiederzulassung der Musik, der aber gewaltsam niedergeschlagen wurde. Von jetzt galt das auch mit Westmusik in Zusammenhang gebrachte "Rowdytum" als Straftat. Wer sich nach westlichem Vorbild die Haare lang wachsen ließ, wurde von der Volkspolizei aufgegriffen und gegen seinen Willen geschoren. Manch ein Erwachsener wird sich bei der auch von den DDR-Medien unterstützten Jagd auf die Unangepassten und Rebellierenden daran erinnert haben, dass in der Nazizeit Männer und Frauen wegen angeblicher Rassenschande ebenfalls geschoren und durch die Städte getrieben wurden. In der DDR mussten sich Bands mit englischen Namen einen neuen Namen zulegen. So wurde aus den "Swinging Guitars" die "Schwingenden Gitarren".

Ja, das ist doch mal endlich ein neuer Tanz!

Was aber wurde an Stelle des "ewigen yeah, yeah, yeah" gespielt? Irgendwas musste man ja den jungen Leuten in der DDR etwas anbieten, und das war ein "Lipsi" und an den lateinischen Namen Lipsia für Leipzig angelegten Paartanz, der den Erwartungen der Jugend im Arbeiter-und-Bauern-Staat nicht entsprach und abgelehnt wurde. Wenn gesungen wurde "Alle tanzen Lipsi, immer wieder Lipsi. / Das ist der Rhythmus, bei dem jeder mit muss. / Alle jungen Leute rufen voller Freude: / Ja, das ist doch mal endlich ein neuer Tanz! / Bald kennt jeder den Schritt, bald kennt jeder den Tritt", dann mag es das in Tanzstunden und im Kreiskulturhaus der Fall gewesen sein, war aber insgesamt eine glatte Übertreibung. Ungeachtet der massiven Propaganda auf allen ostdeutschen Kanälen für den nach der Heimatstadt von Walter Ulbricht benannten Modetanz setzte sich dieser nicht durch. Wie wenig sich die DDR-Bewohner von Lipsi beeindrucken ließen, zeigen Sprechchöre in Halle an der Saale und anderen Städten der DDR wie: "Wir tanzen keinen Lipsi und nicht nach Alo Koll, wir sind für Bill Haley und tanzen Rock 'n' Roll." Alo Koll, der nicht mit Alkohol verwechselt werden wollte, war damals ein in der DDR bekannter Schlagerkomponist, hingegen war Haley für die SED- und Staatsspitze so etwas wie der Teufel in Menschengestalt.

Lipsi also war die sozialistische Antwort auf den von Ulbricht und Genossen als Ausdruck amerikanischer Unkultur und antisozialistischer Dekadenz verteufelten Rock 'n' Roll. Die Melodie im 6/4 -Takt stammte von dem Komponisten René Dubianski, die Choreographie entwickelte das Leipziger Tanzlehrerehepaar Seifert. Der 1959 auf einer Kulturkonferenz in Lauchhammer vorgestellte Modetanz schrieb vor, dass die Paare nicht auseinander tanzen dürfen, obwohl das gerade im Trend lag. Der tanzfreudige und um Popularität bemühte Ulbricht und seine Clique betrachteten alle freien, wilden und ungebundenen Bewegungen mit größtem Widerwillen. Der intern "Spitzbart" genannte Parteichef erboste sich über das "Gehüpfe" von jungen Leuten in so genannten Texashemden und engen Nietenhosen und forderte kategorisch, dass der im Westen und auch im Osten heiß geliebte Twist und Rock 'n 'Roll verboten werden.

Weil Lipsi den Tänzern gestalterische Fesseln anlegte und ein "Ostprodukt" war, setzte er sich nicht durch und verschwand bald wieder in der Versenkung. Dem von der Partei als "gesittet" eingestufte Stil halfen ostdeutsche Werbesprüche nicht, vielleicht weil er immerzu vom DDR-Rundfunk und Fernsehen gesendet wurde, die Musikindustrie viele Lipsi-Platten presste und Preise vergeben wurden. Im Gegenteil wirkten sich die parteiamtlichen Maßnahmen auf den Lipsi kontraproduktiv aus, wie man auch bei weiteren Kampagnen dieser Art beobachten konnte. Wer den als "transatlantische Krawallmusik" diffamierten Rock 'n 'Roll hörte oder tanzte, wer gar Mitglied eines illegalen Fanclubs war und sich außerdem lange Haare wachsen ließ, geriet leicht ins Visier der Staatssicherheit und unterlag Repressalien. In Prozessen gegen unangepasste Jugendliche wurde das "Abhören" dieser Musik stets als strafverschärfend gewertet.

Junge Sozialisten und die Singebewegung

Erst nach der Entmachtung von Ulbricht 1971 sah man in der Honecker-Ära die Dinge entspannter und ließ auch so genannte Ami-Musik zu, ohne sie aber so zu nennen. Streng wurde darauf geachtet, dass sie bei Konzerten, Tanzveranstaltungen und Jugendfestivals nicht die Schöpfungen der volkseigenen Schlagerindustrie dominierte. Es wurde sogar ein bestimmtes Verhältnis zwischen östlichen Produktionen und westlichen Schlagern festgelegt, doch umgingen viele Veranstalter, Kapellen und Diskjockeys, offiziell Plattenaufleger genannt, die staatlichen Vorgaben. Allerdings durfte man sich dabei nicht erwischen lassen. Mit der Singebewegung versuchte die Freie Deutschen Jugend (FDJ) seit den 1960-er Jahren, um mal mit kämpferischer, mal mit romantischer Melodien und ebensolchen Texten die Herzen und Hirne der jungen Generation zu erreichen und sie von subversiven Gedanken und Forderungen abzubringen, wie sie etwa von Wolf Biermann geäußert und durch illegale Mitschnitte verbreitet wurden. Verbunden waren mit der Singebewegung, die der westlichen Rock- und Popmusik Paroli bieten wollte, es aber nicht konnte, musikalische Wettbewerbe und die Förderung des künstlerischen Nachwuchses natürlich im Interesse der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.

Aus dem Kampf um die Köpfe und Herzen der jungen Sozialisten gingen mehrere noch heute bekannte Popstars und Bands hervor. Manchen wurden sogar Auftritte im Westen gestattet. Die Bevormundung der Reimeschmiede und Musiker war häufig platte Apologie und Parteipropaganda. Auf allen DDR-Kanälen und bei diversen Jugendtreffen vorgetragen, wurde sie von den Zielgruppen aber als solche erkannt und abgelehnt. Auf der anderen Seite lösten sich manche aus der Singebewegung kommenden Künstler von ideologischen Fesseln und schufen Lieder und Texte, die von der Staatsmacht als subversiv bewertet und unterdrückt wurden. Die meisten Hinterlassenschaften der Singewebewegung verschwanden nach dem Ende der DDR in den Tonarchiven und sind heute allenfalls noch bei kabarettistischen Veranstaltungen und solchen mit "ostalgischem" Einschlag zu hören.

28. Oktober 2017

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