Orwells Blick in eine menschenverachtende Zukunft
Wer in der DDR mit dem Roman "1984" erwischt wurde, hatte mit schweren Zuchthausstrafen zu rechnen



Wer in der DDR George Orwells Buch "1984" las, musste dies heimlich tun und war auch gut beraten, mit niemanden darüber zu sprechen.





Das Urteil im Namen des Volkes gegen den jungen Mann, der 1959 beim Lesen des Romans über den totalen Überwachungsstaat erwischt wurde, ist im Museum über den DDR-Alltag in der Berliner Kulturbrauerei ausgestellt. Baldur Haase hat 2003 seine Erinnerungen an die Verfolgung durch die DDR-Justiz publiziert.



Wenige Schritte weiter im Museum zur DDR-Geschichte sieht man einen nachgebauten Verhörraum des Ministeriums für Staatssicherheit, an der Wand dessen Emblem "Schild und Schwert der Partei". (Fotos/Repros: Caspar)

In seinem berühmten Roman "1984" schaut der englische Schriftsteller George Orwell, der eigentlich Eric Arthur Blair hieß, in eine menschenfeindliche Zukunft und schildert einen totalen Überwachungsstaat, der einem das Herz gefrieren lässt. Orwell verwendete nicht das geplante Erscheinungsjahr 1948 als Buchtitel, sondern durch einen Zahlendreher das Jahr 1984. In der DDR, und nicht nur dort im Ostblock mund in andern diktatorisch beherrschten Ländern, stand der Roman auf dem Index ganz oben. Wer im "Leseland DDR" dabei erwischt wurde, dass er das Buch heimlich oder ganz offen las und darüber sprach, wurde vor Gericht gestellt. So verurteilte das Bezirksgericht von Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) 19…. einen 27 Jahre alten Theologen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten, weil er "1984" gelesen und an Bekannte verliehen hatte. Das Gericht begründete sein mit der SED und Stasi abgesprochenes Urteil so: "Das Buch ,1984' soll dazu dienen, den Sozialismus zu verteufeln und zu verunglimpfen. Dabei wird insbesondere die Sowjetunion, sowie die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei diffamiert." In den letzten Jahren sei "dieses Machwerk" insbesondere im ideologischen Kampf gegen die DDR eingesetzt worden. Ähnlich erging es Menschen, die Alexander Solschenizyns Buch "Archipel Gulag" über Stalins todbringende Arbeitslager oder die Abrechnung von Wolfgang Leonhard mit dem Stalinismus und der SED-Herrschaft "Die Revolution entlässt ihre Kinder" lasen und darüber sprachen.

In der Berliner Kulturbrauerei schildert die Ausstellung "Alltag in der DDR", wie es 1959 dem jungen Drucker Baldur Haase erging, dem ein westdeutscher Brieffreund ein Exemplar des Orwellschen Buches "1984" geschenkt hatte. Wegen seiner Westkontakte ins Visier der Stasi geraten, angezeigt und in Gera vor Gericht gestellt, wurde der Neunzehnjährige wegen so genannter Nachrichtenübermittlung und staatsfeindlicher Hetze zu drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt. Baldur Haase veröffentlichte 2003 sein Buch "Briefe, die ins Zuchthaus führten: Orwells 1984 und die Stasi. DDR-Erinnerungen 1948-1961", Verlag Zeitgut - Schicksale Berlin, ISBN: 3-933336-32-5, 9,90 Euro).

Totaler Terror im Land Ozeanien

Das 1950 kurz vor Orwells Tod erschienene Buch über totalen Terror und Überwachung spielt im fiktiven Land Ozeanien, in dem eine winzige Oberschicht mit Hilfe von ausgeklügelten Manipulations-, Terror- und Unterdrückungsmechanismen die große Masse in Angst, Schrecken und Unwissenheit hält. Öffentliche Hinrichtungen werden als Volksfeste gefeiert, Brutalität und Menschenverachtung sind allgegenwärtig, täglicher Terror ist Normalität. Um das "Volk" bei Laune und in Bewegung zu halten, werden Hasspredigten gegen imaginäre Feinde gerichtet. Spezielle Sicherheitskräfte sind unterwegs, um von der Norm abweichende Gedanken aufzuspüren und staatsfeindliche Handlungen im Keim zu ersticken. Kinder werden angehalten, ihre Eltern auszuspionieren und an die Gedankenpolizei auszuliefern. Wer nicht mitmacht, lebt gefährlich, und manch einer verschwindet auf Nimmerwiedersehen, wird gehenkt oder vaporisiert, also verdampft.

Wie viele linke Intellektuelle hatte Orwell Mitte der 1930-er Jahre am Spanischen Bürgerkrieg gegen die Truppen des faschistischen Generals Francisco Franco (1892-1975) teilgenommen. Er verließ das Land nach einer Verwundung und veröffentlichte in der Folgezeit über seine Erlebnisse ein Buch. Der literarische Durchbruch gelang 1945 ihm mit dem Buch "Farm der Tiere", das sich mit dem Scheitern der russischen Revolution und den Verbrechen des Stalinismus befasst und in dem sich das geflügelte Wort findet, wonach alle Tiere gleich und einige gleicher sind. Mit diesem zu Beginn des Kalten Kriegs veröffentlichten Roman und weiteren Arbeiten leistete George Orwell einen wichtigen Beitrag, um über Mechanismen des Totalitarismus aufzuklären. Wie "1984" wurde "Farm der Tiere" im Kampf gegen den Kommunismus instrumentalisiert, was dazu führte, dass ihr Verfasser im Ostblock zur Unperson wurde und die Bücher über die Verbrechen des "Großen Bruders" auf den Index kamen, also auf das Verzeichnis verbotener Bücher. Erstmals erschien der von der katholischen Kirche und ihrer Inquisition herausgegebene Index Librorum Prohibitorum, auch Römischer Index genannt, im Jahr 1559, die letzte Ausgabe von 1948 listete 6000 Publikationen auf, deren Lektüre Katholiken bei Strafe der Exkommunikation verboten war.

Wer in Ozeanien Einfluss und Ansehen genießt, aber aus irgend einem Grund in Ungnade gefallen ist, dessen Andenken wird aus den Medien und den Geschichtsbüchern getilgt und verfällt, wie schon in der Antike beziehungsweise zu Hitlers und Stalins Zeiten, der "Damnatio memoriae", der Tilgung der Erinnerung an ihn. Ganze Heerscharen von Schreibern und Druckern produzieren ständig neue Bücher und Zeitungen, in denen die permanenten Wendungen in der Politik verbreitet werden. Obwohl die Versorgung mit dem Allernötigsten miserabel ist, wird den Menschen weisgemacht, sie hätten alles zur Verfügung und würden keine Not leiden. In einem solchen Land gelten keine Werte - Religion und die Errungenschaften der Aufklärung sind passé, demokratische Mitbestimmung ist abgeschafft, Wahrheit verkommt zur Lüge, Liebe zu Verrat. Das Leben hat keinen Wert, Wohlstand wird zur Armut und Wissen zur Gefahr.

Nur wenige Leute in Ozeanien durchschauen das System der Überwachung, Manipulation und Terrorisierung. Einer von ihnen ist der Mitarbeiter des "Wahrheitsministeriums" Winston Smith. Indem er Tagebuch führt und "falsche Gedanken" hegt, begibt er sich in Lebensgefahr und wird zum Beobachtungsobjekt der Gedankenpolizei. "Einer Zukunft oder einer Vergangenheit, in der Gedankenfreiheit herrscht, in der Menschen voneinander verschieden sind und nicht jeder für sich lebt - einer Zeit, in der es Wahrheit gibt und das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann, schicke ich diesen Gruß aus einem Zeitalter der Gleichmachung und der Vereinsamung, dem Zeitalter des Großen Bruders, dem Zeitalter des Zwiegedankens", vertraut er seinem Tagebuch an. Doch auch Winston wird Opfer des Systems, dem er dient. Intensiver Gehirnwäsche und Folter ausgesetzt, verleugnet er sein Wesen, verrät seine Überzeugungen, räumt ein, dass zweimal zwei fünf ist, und dass er den Großen Bruder "liebt".

Krieg ist Frieden, Sklaverei ist Freiheit

Überall ist dessen Bild zu sehen, niemand kann seinen misstrauisch forschenden Blicken ausweichen. "Der Große Bruder sieht dich an!" heißt es am Beginn des Romans, und dieses Motto durchzieht Orwells Schreckensszenarium. Der Große Bruder wird nicht älter und ist auch nicht greifbar, ihm stehen mächtige Ministerien und eine große Masse williger Helfer zu Gebote, die keine Fragen stellen und nur funktionieren. Da gibt es das Wahrheitsministerium, genannt Miniwahr, das die dicksten Lügen verbreitet und für die Beseitigung letzter Reste von Ethik und Moral und von missliebigen Schriften sorgt. Aus diesem Propagandaministeriums prasselt unentwegt der Slogan "Krieg ist Frieden, Sklaverei ist Freiheit, Unwissenheit ist Stärke" auf die Bewohner von Ozeanien herab. Indem bestimmte Worte verboten werden und vergessen sind, verschwinden scheinbar die Probleme, die sie bezeichnen. Plötzlich gibt es keinen Hunger mehr, und auch der Mangel an Freiheit wird nicht mehr empfunden, weil die Begriffe in so genannten Gedächtnislöchern verschwinden. Die Sprache wird auf das Allernotwendigste reduziert und heißt jetzt "Neusprech", Bücher großer Autoren der Vergangenheit sind nicht mehr zu haben.

In dem Land werden Zwangarbeitslager "Lustlager" und das Kriegsministerium "Friedensministerium" genannt. Begriffe wie Ehre, Gerechtigkeit, Moral, Internationalismus, Demokratie, Wissenschaft und Religion sind ausradiert. Die Proles genannte übergroße Mehrheit der Bevölkerung wird in Armut und Dummheit gehalten und stellt für das Regime keine Gefahr dar. Die ständig geführten Kriege dienen als Entschuldigung dafür, dass die Wirtschaft nicht voran kommt und sich das Land in einer prekären Lage befindet, das sich Demokratie, Freiheit oder Bildung nicht leisten kann. Die mit Schnulzenliedern, Groschenheften und pornografischem Material nach dem antiken Motto "Brot und Spiele" bei Laune gehaltenen Unterschicht hat kein Interesse, den Überwachungsstaat zu kritisieren oder gar einen Umsturz herbeizuführen.

Obwohl Orwell seinen Roman in einem imaginären Land spielen lässt, bezogen die Herrscher in der östlichen Hemisphäre ihn nicht von ungefähr auf sich. Es versteht sich, dass "1984" in den kommunistischen Ländern und in der DDR verboten war. Bezüge zwischen den Machenschaften und Verbrechen des so genannten Liebesministeriums, in dem man eine Art Ministerium für Staatssicherheit sehen kann, und dem Realsozialismus drängten sich auf. Wer darüber sprach und Vergleiche anstellte, wurde als Staatsverbrecher verfolgt. Big Brother war vor ein paar Jahren bei uns in einer populären Unterhaltungssendung im Privatfernsehen präsent, die bis ins Intimste hineinschauen. Viele Zuschauer werden kaum gewusst haben, woher der Titel stammt.

25. Oktober 2017

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"