Marx und Murks
In der DDR wurden Milliarden Mark für unwirtschaftliche Prestigeprojekte vergeudet



Bei jungen FDJ-lerinnen in blauen Blusen fühlte sich Erich Honecker besonders wohl, wer gegen seine irreale Wirtschafts- und Sozialpolitik aufmuckte, wurde gefeuert und kalt gestellt.



Die von der SED gesteuerte Propaganda tat so, als würde es in der DDR nur aufwärts gehen, als könnte nichts den Siegeszug des Sozialismus im Arbeiter-und-Bauern-Staat aufhalten.



Wer einen Trabi haben wollte, musste sich anmelden und jahrelang warten. Die damals verspottete "Rennpappe" ist heute Kult.



Fürs leibliche Wohl sorgten zwar so genannte Goldbroiler, aber sonst sah es in den Kaufhallen und Läden ausgesprochen mau aus, und was da angeboten wurde, war nicht gerade nach dem Geschmack von Honeckers Untertanen.



Während anderswo schon die ersten Computer standen, hat man sich in der DDR noch mit urtümlichen Maschinen beholfen. Die von der SED-Führung forcierte Mikroelektronik erwies sich als teurer Flop. (Fotos/Repros: Caspar)

Die DDR war im Sommer 1989 voll und ganz mit der Vorbereitung der Vierzigjahrfeier ihrer Gründung der DDR befasst. Das Jubiläum sollte so prunkvoll und international so überzeugend wie möglich gefeiert werden, koste es, was es wolle. Für 1990 war der XII. Parteitag der SED geplant, bei dem sich Generalsekretär Erich Honecker erneut im Palast der Republik zum Parteischef wählen lassen wollte. Das war für manche Genossen in seinem Umfeld eine wenig erfreuliche Aussicht, denn der Politgreis war politisch und gesundheitlich angeschlagen. Indem er sich dem durch Glasnost und Perestroika bestimmten Zeitgeist verschloss, legte er sich mit dem sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow an, auch wenn beide nach außen Einigkeit bekundeten und sich gegenseitig auf die Wangen küssten.

Akribisch wurde im NEUEN DEUTSCHLAND und anderswo registriert, wer alles zum 40. Republikgeburtstag am 7. Oktober 1989 anreist und wer dem offenbar mit geringem Selbstbewusstsein ausgestatteten Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker Glückwunschtelegramme schickt. Ostberlin wurde auf Kosten der anderen, von Verfall bedrohten DDR-Städte herausgeputzt, und wo immer die Stasi Leute vermutete, die die Feierlichkeiten stören könnten, wurden sie auf Schwarze Listen gesetzt, verhaftet und/oder an der Reise nach Berlin gehindert.

Geist des Widerspruchs

Kampagnen wie die zum 40. Jahrestag der DDR waren sattsam bekannt. Immer hielten irgendwelche Jubiläen zu Treueschwüren und Verpflichtungen her, zu mehr Arbeitsleistung und Übererfüllung der Pläne. Diesmal aber muckte die Bevölkerung auf. Das Gespenst der Verweigerung, der Geist des Widerspruchs ging um in der DDR. Der Unglaube in die immer wieder versprochene Verbesserung der Lebensverhältnisse und die Vorzüge der sozialistischen Planwirtschaft, schlimmer noch in die Sieghaftigkeit des Sozialismus beziehungsweise in das, was Honecker & Co. darunter verstanden, gewann an Boden. Unüberhörbar scholl der Ruf nach mehr Mitbestimmung und Reisefreiheit durch das Land. Immer deutlicher wurde offenbar, dass die Industrie auf dem letzten Loch pfeift, dass aus Marx Murks gemacht wird, mit anderen Wirten dass die von den Theorien von Karl Marx, Friedrich Engels, Lenin und anderen "Klassikern" abgeleitete Planwirtschaft nicht das bringt, was man sich von ihr erhofft. Nach der Wiedervereinigung 1990 mussten sehr zum Leidwesen der Beschäftigten viele Betriebe abgewickelt werden, weil sie mit veralteten Maschinen arbeiteten und Erzeugnisse auf dem Stand von gestern produzierten.

In oppositionellen Zirkeln, aber auch in Parteigruppen wurden Forderungen nach Glasnost und Perestroika laut. Michail Gorbatschow, deren Protagonist, avancierte mehr oder weniger offen zum Idol vieler unzufriedener DDR-Bewohner. Wer sich etwa aus dem Westen Gorbi-Anstecker beschaffte oder selber fabrizierte und sie auf der Jacke trug, wer gar "sowjetische Verhältnisse" forderte, bekam Ärger mit der Staatsmacht und ihrer von Erich Mielke geleiteten Geheimpolizei.

Wie ernst die Lage war, stand ziemlich unverblümt in den geheimen Dossiers der Staatssicherheit und in anderen Dokumenten. Sie wurden einem kleinen Kreis von Spitzenpolitikern zur Kenntnis gegeben, doch ob sie wirklich gelesen wurden und vor allem ob man ihrer Brisanz verstanden hat, ist nicht bekannt. Wer das ZK-Gebäude am Werderschen Markt in Ostberlin verließ und sich unters Volk mischte, konnte sich ein recht gutes Bild machen. Honecker hörte von seiner Tochter, die in einer einfachen Drei-Zimmer-Wohnung an der Leipziger Straße in Ostberlin wohnte, manche Klage über die schlechte Versorgung der Bevölkerung mit Obst, Gemüse und anderen "1000 kleinen Dingen", doch er ignorierte die Zeichen an der Wand.

Abstimmung mit den Füßen

Statt die Karten auf den Tisch zu legen, die Lage ungeschminkt darzustellen und die Untertanen als "mündige Bürger" ins Boot zu nehmen einzubeziehen, setzte die SED-Führung weiterhin auf Lüge und Repression. Honecker und sein Stasi-Minister Mielke zogen die Kandare noch fester an. Es galt, die Abstimmung mit den Füßen in Form von Ausreiseanträgen zu stoppen und angeblich vom westdeutschen Imperialismus gesteuerte Kräfte auszuschalten. Wenn es nötig sei, würde man diese Leute in so genannte Isolierungsobjekte einweisen, die als eine Art Konzentrationslager überall in der DDR vorsorglich zur Internierung unbotmäßiger Untertanen eingerichtet worden waren.

Wirtschaftsexperten aus dem Politbüro rechneten Erich Honecker zunächst intern und nach seinem Sturz im Oktober 1989 auch vor dem SED-Zentralkomitee und damit halböffentlich vor, dass der von ihm mit großem propagandistischem Tamtam als Spitzenleistung DDR-deutscher Wissenschaft und Technik vorgestellte Prototyp eines neu entwickelten 32-bit-Rechners und eines 1-Magabit-Schaltkreises ein großes Verlustgeschäft ist und die Herstellungskosten in keinem Vergleich zu den Verkaufserlösen auf dem Weltmarkt stehen. Bereits im April 1988 hatte SED-Politbüromitglied Gerhard Schürer, der Chef der Staatlichen Plankommission, den Partei- und Staatschef dringend geraten, den Ausbau der Mikroelektronik zu beenden und die frei werdenden Mittel in ein wirkliches Zugpferd der DDR-Wirtschaft, den Maschinenbau, zu stecken, die aufgeblähte Bürokratie abzubauen, Abstriche von der 1971 verkündeten "Hauptaufgabe" vorzunehmen und die Politik der sinnlosen Subventionen zu beenden.

Honecker schäumte vor Wut, sah er doch in Schürers Vorschlägen einen Frontalangriff gegen seine eigene Person und die von ihm und seinem Wirtschaftssekretär Günter Mittag betriebene, unter den obwaltenden Bedingungen aber nicht finanzierbare "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik". Schürer wurde intern zur Ordnung gerufen, die Mikroelektronik blieb weiterhin Honeckers Steckenpferd. Der von ihm erträumte Durchbruch auf dem Weltmarkt und die spürbare Verbesserung der Lebenslage der DDR und ihrer Devisenbilanz kamen nicht zustande, Propagandaparolen hin, Wettbewerbslosungen her. Günter Schabowski, als Mitglied des SED-Politbüros und Bezirkssekretär von Berlin zum engsten Machtzirkel der Staatspartei gehörend, schreibt in seinem Buch von 1991 "Der Absturz" mit Blick auf Honeckers Lieblings-Baby: "Was wurde in Zeitungen, Fernsehen und Rundfunk der DDR für ein Aufhebens von der Mikroelektronik gemacht! Die Bürger sollten sich mit Stolz aufladen angesichts der mikroelektonischen Potenz der DDR. High-Tech zum ehrfürchtigen Bestaunen, nicht zum Anfassen." Der DDR-Haushalt sei computerfrei geblieben, und das habe sich kaum geändert, als Ende 1988 die ersten DDR-Rechner mit schlichtem 8-Bit-Prozessor zum horrenden Preis von etwa 3000 Mark im Handel erschienen." Was in anderen hochentwickelten Industrieländer schon Alltag war, gab es in der DDR, die sich offiziell zum Klub der ersten zehn zählte und dies mit gefälschten Statistiken kund tat, für DDR-Mark nicht. Wer die damals noch in den Kinderschuhen steckenden Computer haben wollte, musste sie sich mit Hilfe von Westgeld im Intershop oder auf anderen Wegen beschaffen.

Opfer der eigenen Propaganda

Unverkennbar Opfer der eigenen Propaganda und gefälschter Statistiken, übersahen Honecker und sein Ohrenbläser Günter Mittag, dass andere Länder gerade auf dem Gebiet der Mikroelektronik viel schneller sind und billiger produzieren. Der teuer produzierte 1-Megabit-Schaltkreis und andere Erzeugnisse waren nicht konkurrenzfähig. Unverdrossen ließ Honecker im NEUEN DEUTSCHLAND am 12. März 1989 verkünden, dass in Hermsdorf produzierte 4-Magabit-Hybridspeicher auf der Leipziger Messe ausgestellt werden. "Damit kann dem Anwender ein Speichermodul zur Verfügung gestellt werden, das in seiner Speicherkapazität dem internationalen Höchststand bei monolithischen mikroelektronischen Schaltkreisen entspricht."

Werner Jarowinsky, im Politbüro zuständig für Handel und Versorgung, stellte auf der 10. ZK-Tagung am 10. November 1989 klar, und das war ein Tag nach der Maueröffnung, dass "wir" in der Volkswirtschaft nicht den Mut gefunden haben, die notwendigen Änderungen in der Volkswirtschaftsstruktur einzuführen, statt dessen seien große Programme in Gang gesetzt worden wie zum Beispiel die Mikroelektronik, die 12 bis 14 Milliarden Mark gekostet habe. "In der Presse, in der Öffentlichkeit, in dem Medien haben wir dargestellt, wie ungeheuer wichtig das ist für die ganze volkswirtschaftliche Entwicklung und was das in der Zukunft noch alles bringen wird, um alle anderen Fragen lösen zu helfen, für Konsumgüter usw. Der Speicherschaltkreis 40 Kilobit, unsere Hauptproduktion gegenwärtig, 8,9 Mio. Stück Produktion, der Betriebspreis 40 Mark, der Weltmarkpreis 1,00 bis 1,50 Mark; der Speicherschaltkreis 256 Kilobit, das ist der, der groß angekündigt in die Produktion gegangen ist, der kostet bei uns - reine Kosten - 534 Mark, der Weltmarktpreis beträgt gegenwärtig 4 bis 5 Valutamark". Das seien die Zugpferde, um die Konsumtion, um die übrige Volkswirtschaft zu entwickeln. Und dann noch das Pkw-Programm mit zehn Milliarden, "wo wir nicht ein Ersatzteil mehr haben, wo darüber hinweggegangen wird, hier. Milliarden über Milliarden sind falsch eingesetzt worden, nicht von Experten vorher überprüft. Es war Selbstbetrug".

Jarowinsky forderte in seinem dramatischen Appell die Genossen auf, damit aufzuhören, sich selbst zu belügen. Jetzt müsste endlich die Rechnung gelegt werden, was die Volkswirtschaft wirklich kostet, und das Leistungsprinzip an die Stelle von Kommando- und Abführungswirtschaft zu stellen. Er räumte eigene Schuld ein und forderte seine Genossen auf, mit Verschwendung, Schlamperei und Fahren auf Verschleiß und dem Augenverschließen Schluss zu machen. Generell kritisierte Jarowinsky wenig hilfreiche, ja desorientierende Artikel im NEUEN DEUTSCHLAND etwa zum Thema Subventionen aus der Feder des bei Honecker hoch im Kurs stehenden Wirtschafts- und Sozialhistorikers Jürgen Kuczynski. Die zu allen möglichen Anlässen organisierte Wettbewerbsbewegung habe, da sie in der Regel keine materielle Deckung hatte, nicht das erbracht, was man sich erhofft hatte

Wie brisant Jarowinskys Darlegungen waren, zeigt der Verzicht der SED-Führung unter dem Honecker-Nachfolger Egon Krenz, das brisante Material im NEUEN DEUTSCHLAND zu veröffentlichen. Die DDR-Bewohner sollten wohl durch allzu krasse Offenlegung der finanziellen Katastrophe nicht schockieren und sich zu den schon vorhandenen Problemen keine weiteren Diskussionen aufladen. Nicht veröffentlicht wurde auch die Rede, in der Gerhard Schürer ebenfalls recht ungeschminkt die aktuelle Lage schilderte. Als Kandidat des Politbüros und stellvertretender Ministerpräsident sowie Vorsitzender der Staatlichen Plankommission der DDR mit Planungsaufgaben befasst, war er mit Zahlen und Bilanzen bestens vertraut. 1971 habe die DDR eine Millionen Dollar Verpflichtungen gehabt, jetzt seien es 20 Milliarden Dollar. Mit Blick auf Honeckers sture Haltung, etwas gegen die Verschuldung zu tun, erklärte Schürer: "Unsere warnende Stimme damals war viel zu schwach, und die Reaktion darauf war immer prinzipiell". Er sei von Honecker persönlich scharf kritisiert und verwarnt worden, "dass ich die Parteibeschlüsse durchzuführen habe". Einmal habe Honecker dem Ministerpräsidenten Willy Stoph gesagt: "Die Worte über einschneidende Maßnahmen wollen wir hier nie wieder hören".

Riesige Ressourcen und Beträge vergeudet

Die Vergeudung riesiger Ressourcen und Beträge gab es nicht nur bei der Mikroelektronik, beim Ausbau der Grenzanlagen, bei der Aufrüstung der Geheimpolizei und der Armee, sondern auch beim prestigeträchtigen Ausbau der DDR-Hauptstadt. Dort entstand an der Friedrichstraße gerade ein neuer Kulturpalast, der wegen seiner eigenartigen Fassade intern als "grusinischer Bahnhof" verulkt wurde. Das Haus kam über das Rohbaustadium nicht hinaus und musste es nach der Wiedervereinigung schicken Kauf-, Geschäfts- und Wohnhäusern Platz machen. Erst nach dem Ende der DDR wurde bekannt, dass Milliarden in ein zum Schutz der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates und seines Vorsitzender Honecker angelegtes Bunkersystem nördlich von Berlin gesteckt, man möchte sagen auf Nimmerwiedersehen vergraben wurden. Der so genannte Honeckerbunker, eine atombombensichere Anlage in Prenden bei Wandlitz, soll ein Mehrfaches vom Palast der Republik gekostet haben, und der wird auf eine Milliarde Ostmark taxiert. Während jedem DDR-Bürger eisernes Sparen zur Pflicht gemacht wurde und Verstöße dagegen, wenn es politisch opportun war, streng geahndet wurden, hat die ganz auf die eigene Sicherheit und ein kurzzeitiges Überleben nach einem durchaus für möglich erachteten Atomschlag orientierte SED- und Militärführung riesige Ressourcen in solche Anlagen gesteckt, ohne je öffentlich darüber Rechenschaft abzugeben.

24. Juli 2017



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