"Diese Schandtaten ist Eure Schuld!"
Die These von der Kollektivschuld übersah, dass es auch das "andere Deutschland" gegeben hat



Die Nazis versprachen ihren Untertanen einen Siegeszug ins Dritte Reich, dem sie eine Dauer von tausend Jahren versprachen. Doch ging der auf Terror und Gewalt gegründete Staat nach zwölf Jahren in einem Meer von Blut und Tränen unter.



Begeistert begrüßten die meisten Deutschen, hier eine Szene auf dem Potsdamer Platz 1933, das NS-Regime. Im allgemeinen Jubel gingen nachdenkliche, warnende Stimmen unter, aber natürlich gab es diese.



So wünschte sich das Hitler-Regime die deutsche Jugend - in Reih und Glied marschierend und unbeirrt den Parolen ihres Führers bis in den Krieg und den Tod folgend.



Viele Österreicher gingen der Parole von 1938 "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" freudig auf den Leim. Nach dem Krieg hieß es beschwichtigend und wahrheitswidrig, die Alpenrepublik sei das erste Opfer des Dritten Reichs gewesen.



Goebbels' Frage von 1943 "Wollt ihr den totalen Krieg"? fiel bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden. Jahrelange Verblendung und Propaganda, alltäglicher Terror der SS und der Gestapo, Angst vor der Rache der Alliierten und Hoffnung auf den Endsieg hielten viele davon ab, entschieden gegen die Diktatur aufzustehen. Doch hat es mutige Menschen gegeben, die das wagten und dafür Leben und Freiheit einsetzten.



Amerikanische Soldaten zwangen Bewohner von München, sich die im KZ Dachau aufgetürmten Häftlingsleichen anzuschauen und daraus Lehren für sich und ihre Haltung zur untergegangenen NS-Diktatur zu ziehen. (Repros: Caspar)

Nach dem Ende der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs wurde laut und kontrovers darüber gestritten, wie es zu dieser größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts kam und wer für sie verantwortlich ist. Der Oberbegriff für die bis heute andauernde Debatte war Kollektivschuld. Er war und ist auch heute ein ausgesprochenes Reizwort, demzufolge alle Deutschen Verantwortung für die Nazi- und Kriegsverbrechen tragen würden. Eugen Kogon, Überlebender des KZ Buchenwald und Autor des mehrfach aufgelegten Buches "Der SS-Staat", stellte 1946 fest, es gebe keinen Deutschen, der nicht wüsste, dass es Konzentrationslager gab. "Kaum ein Deutscher, dem nicht bekannt gewesen wäre, dass die Gefängnisse überfüllt waren, und dass im Lande unentwegt hingerichtet wurde". Indem Kogon die ganze Bandbreite der Naziverbrechen von den Konzentrationslagern und der Sklavenarbeit der dort gefangen gehaltenen Menschen bis zur Ermordung von Kranken und Schwachen und den Massenliquidierung von Juden und russischen Kriegsgefangenen aufzählte, fragte er seine Leser, ob eine einzige dieser Feststellungen falsch sei. Ralph Giordano, der in seinem Buch "Die zweite Schuld" die Passage zitiert, antwortet "Nein, keine einzige" und fährt fort, diese Kenntnisse seien bei der Beurteilung der Kollektivschuldfrage einzubringen, sie auszulassen wäre völlig unzulässig.

Gegen die von den Westmächten vorgenommene pauschale Verurteilung unter dem Motto "Diese Schandtaten ist Eure Schuld!" regte sich bald nach Kriegende Widerstand. Denn die These von der Kollektivschuld und den Deutschen als Tätervolk übersah, dass nicht alle Deutschen Hitler als willige Helfer, als Denunzianten und Spitzel gedient und sich die Hände blutig gemacht haben. Sie leugnete die Opfer der Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter sowie vieler anderer Gruppen bis hin zu Vertretern der Kirche und Angehörigen des Militärs, die im Untergrund gegen das Naziregime kämpften und vielfach Leben und Freiheit verloren.

Wir wollen mehr Demokratie wagen

Nach dem Krieg gaben die Westalliierten Kollektivschuld-Richtlinien heraus, die aber nicht lange Bestand hatten, weil sie der Demokratisierung und dem Wiederaufbau im ehemaligen Deutschen Reich im Wege standen. Ziel der Reeducation, das heißt der Erziehungsarbeit zur Austreibung des Nazismus und Nationalismus, war es zunächst, den Deutschen unwiderlegbare Beweise ihrer Schuld am Krieg und den Verbrechen in den Konzentrationslagern auf drastische Weise vor Augen zu führen. Zahllose Männer, Frauen, Jugendliche und sogar Kinder wurden gezwungen, bei der Bergung und Bestattung der Leichen zuzuschauen sowie Krematorien mit den halbverbrannten Knochen zu besichtigen. Dass damit die erwünschten Wirkungen bei den Besiegten erreicht wurden, ist zu bestreiten, vermutlich regte sich mehr Wut auf diejenigen, die solche Zumutungen befahlen, als weniger die Einsicht "Ja, wir haben uns mit Schande bedeckt, wir müssen alles tun, diese von uns abzuwaschen." Viele durch die zwölfjährige Propaganda desorientierten Menschen waren dazu nicht bereit, und alles was mit demokratischer Selbstbestimmung zu tun hatte, musste erst wieder erlernt werden. Der spätere Bundeskanzler Willy Brandt kleidete diese wichtige Aufgabe in den Slogan "Wir wollen mehr Demokratie wagen".

Indem sie in den Westzonen Beweise für den Widerstand im Nazireich, etwa am ersten Jahrestag des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944, ignorierten, glaubten die Westalliierten, ihrer Kampagne einen Dienst zu erweisen. Um die Deutschen zu bestrafen, wurden nach dem Krieg zunächst Lebensmittel gegen den weit verbreiteten Hunger verweigert. Erst ab 1946 wurden Lebensmittel der Cooperative for American Remittances for Europe (CARE) in die Westzonen geschickt, während Stalin deren Empfang in der Sowjetischen Besatzungszone verbot. Der sowjetische Generalissimus verfolgte eine andere Politik, indem er die Parole "Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt bestehen" ausgab und große Anstrengungen unternahm, um in seinem Herrschaftsbereich den Nazismus mit Stumpf und Stil auszurotten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Dass dabei die sowjetischen Besatzungstruppen und ihre Justizorgane vielfach übers Ziel hinaus schossen und Ostdeutschland durch die vom Potsdamer Abkommen festgelegte Demontage ganzer Industrien und Teile des Verkehrssystems auf lange Zeit schwer geschädigt wurde, darf bei dieser Bewertung nicht übersehen werden.

Deutsches Fräuleinwunder

Grundlage für die kollektiven Bestrafung der Deutschen in den Westzonen war das US-Dokument JCS 1067. Es legte bereits Anfang 1945, als noch der Krieg tobte, Deutschland als Feindstaat zu behandeln und seine Bewohner streng und unerbittlich zur Verantwortung zu ziehen. Die NS-Propaganda versuchte, durch Horror- und Gräuelmeldungen zu diesem Thema letzte Reserven für den Endsieg zu mobilisieren. Die Besatzungsmächte verboten jede Form von Fraternisierung, also von freundlicher Kontaktaufnahme zwischen den Besatzern und der deutschen Bevölkerung. Die Weisung wurde nicht überall beachtet, und Liebesbeziehungen zwischen US- und anderen Soldaten und deutschen "Fräuleins" blieben nicht aus. Man sprach in diesem Zusammenhang sogar vom "deutschen Fräuleinwunder".

Die Vorschrift verbot den Militärgouverneuren, den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands zu unterstützen. Diese Haltung wurde nicht überall begrüßt. Weitsichtige Leute erkannten, dass es ein Unding ist, das ehemalige Deutsche Reich auf den Stand eines primitiven Agrarstaats zurückzustufen und seinen gut ausgebildeten Facharbeitern jede Möglichkeit zu nehmen, am Wiederaufbau mitzuwirken. Ein in eine Wüste verwandeltes Deutschland wurde jedoch angesichts des beginnenden Kalten Krieges als europäischer Unsicherheitsfaktor und als leichte Beute für die Lockrufe der Sowjetunion eingestuft.

Aus diesem Grunde hatte auch der Morgenthauplan keine Chance. Der nach dem US-Finanzminister Henry Morgenthau jr. benannte Plan vom September 1944 sah vor, dass aus dem nationalsozialistischen Deutschland, wenn es denn in nicht allzu ferner Zukunft erobert und besetzt ist, ein entmilitarisiertes Agrarland gemacht wird, das niemals mehr in der Lage sein wird, einen Krieg zu beginnen und zu führen. "Ich würde jedes Bergwerk, jede Fabrik zerstören. Ich bin dafür, dass das alles erst einmal vernichtet wird. Dann können wir uns über die Bevölkerung den Kopf zerbrechen", sagte der Finanzminister zu seinem Staatssekretär Harry Dexter White. Der Morgentauplan sah die Zerstückelung des Deutschen Reichs, die Demontage seiner Fabriken und die Unterwerfung seiner Bewohner unter den Willen der Sieger vor. Da der Geheimplan in die amerikanische Presse gelangte und dort entrüstete Reaktionen hervor rief, sahen sich der US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Churchill gezwungen, sich von den Vorschlägen zu distanzieren. Churchill wollte vermeiden, dass sich England an einen Leichnam, das in Trümmern liegende Reich kettet. Die Deutschen auf ein vorindustrielles Niveau herabzudrücken, hätte über kurz oder lang zu neuen Konflikten geführt und die Wut der zur Armut, Elend und Unmündigkeit verdammten Menschen angestachelt, waren einsichtige Politiker überzeugt.

Keine Chance für den Morgenthauplan

Wäre der Morgenthauplan verwirklicht worden, dann war auch zu befürchten, dass das untergegangene Nazi-Reich von seinen Bewohnern verklärt wird und die Verbrechen der Hitler-Zeit schnell in Vergessenheit geraten. Für die NS-Propaganda waren die nicht unbekannt gebliebenen Ideen des US-Finanzministers ein gefundenes Fressen. Goebbels schlug unter Hinweis auf eine angebliche Versklavung der Deutschen die antijüdische Trommel und rief zu noch größeren Anstrengungen im Kampf für den Endsieg auf. Nach dem Untergang des NS-Staates diente der Morgenthauplan Alt- und Neonazis antiamerikanischer und antisemitischer Hetze. Doch auch in der DDR wurde er im Zeichen des Kalten Kriegs für die Propaganda gegen den US-Imperialismus und seine dem Nazismus verpflichteten westdeutschen Verbündete, so die ostdeutsche Diktion, mit Bundeskanzler Konrad Adenauer an der Spitze instrumentalisiert.

In der nationalsozialistischen Propaganda spielte das Wort Plutokratie eine große Rolle. Nach der Sage soll Plutos, der antike Gott des Reichtums, blind gewesen sein und daher wahllos und ungerecht seine Gaben verteilt haben. Der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff meinte Herrschaft des Reichtums und wurde häufig zur Diffamierung Großbritanniens und der USA verwendet. Propagandaminister Joseph Goebbels unterstellte diesen Staaten, sie würden von superreichen Juden beherrscht. Da dieser Geldadel seine Macht mit allen Mitteln ausweiten wolle und über Leichen geht, sei es historische Aufgabe des Deutschen Reiches, dieser Entwicklung mit allen politischen und militärischen Mitteln Einhalt zu gebieten. Weil der Begriff Plutokratie bis zum Überdruss von den Nazis gebraucht wurde, verschwand er nach dem Ende des NS-Staates aus dem politischen Vokabular. Linke Systemkritiker verzichteten auf die Anprangerung des Kapitalismus als Herrschaft von Plutokraten, um sich nicht des Verdachts auszusetzen, sprachlich in nationalsozialistischem Fahrwasser zu schwimmen.

16. August 2017

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