Die Todesopfer an der innerdeutschen Grenze
Ergebnisse eines fünf Jahre laufenden Forschungs- und Dokumentationsprojekts in der Gedenkstätte Berliner Mauer vorgestellt





Das von Jochen Staadt, Monika Grütters und Klaus Schroeder (von links nach rechts) in der Gedenkstätte Berliner Mauer vorgestellte biographische Handbuch ist im Verlag Peter Lang erschienen (ISBN 978-3-631-72594-8).



Die nach dem 13. August 1961 gebauten Sperranlagen wurden mit den Jahren so perfektioniert, dass ein Durchkommen kaum möglich war. Viele Fluchtwillige scheiterten schon im Vorfeld, andere starben dort einen qualvollen Tod.





Die ehemalige Grenzübergangsstelle Marienborn bietet jungen Leuten, die die DDR nur noch vom Hörensagen kennen, wenn überhaupt, wichtigen Anschauungsunterricht. (Fotos/Repro: Caspar)

Im Gegensatz zu den mindestens 140 Todesopfern an der Berliner Mauer war bisher das Schicksal der Menschen, die dem DDR-Grenzregime an der innerdeutschen Demarkationslinie zum Opfer fielen, in allen seinen Facetten und Umfängen nur ungenau bekannt. In einer am 7. Juni 2017 in der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße vorgestellten Dokumentation gingen Historiker vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin der Frage nach, wer die 327 zwischen 1949 und 1989 an der innerdeutschen Grenze ums Leben gekommenen Menschen waren. Die Männer, Frauen, Jugendlichen und Kinder starben im Kugelhagel der DDR-Wachmannschaften, aber auch durch Explosion von Minen und Sperren, sie ertranken in reißenden Flüssen, gingen an den Folgen von Herzinfarkten und anderen Krankheiten zugrunde und legten nicht zuletzt die eigene Hand an sich an. Das 684 Seiten starke Buch gibt den Maueropfern sowohl aus der Frühzeit der DDR als auch nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 einen Namen und in vielen Fällen auch ein Gesicht. Der älteste Tote war ein 81 Jahre alter Bauer, der nach der Detonation einer Landmine starb, das jüngste Opfer war ein nur sechs Monate alter Junge, der im Kofferraum eines Fluchtautos erstickt ist.

Wie die Herausgeber der Dokumentation Klaus Schroeder und Jochen Staadt sowie weitere Redner bei der Buchvorstellung betonten, überstieg die Zahl der an den Sperranlagen zur Bundesrepublik Deutschland ums Leben gekommenen DDR-Grenzer mit etwa 400 Personen bei weitem die der dort getöteten Zivilisten. Auch diesen Opfern in der Uniform der Nationalen Volksarmee setzt das Buch ein Denkmal. Das war für die Forscher ein in dieser Größenordnung unerwartetes Ergebnis der Untersuchungen. Viele Soldaten seien zum Dienst an der Berliner Mauer und an den immer mehr perfektionierten innerdeutschen Grenzanlagen mit Verlockungen und Zwang genötigt worden, viele hätten den Dienst nur unwillig geleistet und persönliche und berufliche Nachteile in Kauf genommen, sich ihm zu entziehen. Bei 44 namentlich bekannten und in dem Buch erwähnten Soldaten war der Druck durch die Vorgesetzten, waren die Bilder und Erlebnisse bei der Bergung toter oder noch um ihr Leben ringender Menschen sowie die Angst vor Repressalien so groß, dass sie sich umbrachten, nicht ohne in Briefen an die Angehörigen die Gründe dafür anzugeben. Was in diesen Mauertoten vor sich ging, war ein Staatsgeheimnis, und erst nach dem Ende der DDR konnte und durfte darüber gesprochen werden. Auch diese uniformierten Opfer des SED-Regimes sind in der genannten Zahl enthalten.

Recherchen noch lange nicht abgeschlossen

Schroeder, Staadt und der Forschungsverbund sind mit ihren Recherchen für das innerdeutsche Totenbuch mit dem Bild eines durch einen Schuss durchbohrten Versicherungsausweises auf dem Umschlag noch lange nicht am Ende. Sie richten jetzt ihren Blick auf die gelungenen und versuchten Fluchten entlang der Ostseeküste und wollen herausfinden, wer auch dort sein Leben lassen musste. Dann gab es noch die "verlängerte Grenze" in den Ostblockstaaten, über zu fliehen für manche DDR-Bewohner tödlich endete. Dieses Thema soll in einem Ergänzungsband dokumentiert werden. Ebenso wird noch aufgearbeitet, was mit den 100 000 DDR-Bewohnern oder mehr geschehen ist, deren Flucht schon weit vor den Grenzanlagen gescheitert ist. Nach Berechnungen der Historiker wurden 80 Prozent der Fluchtwilligen im Vorfeld der Grenzen gefasst und 15 Prozent in Grenznähe. Lediglich fünf Prozent der meist jungen Erwachsenen ereichten die rettende andere Seite. Sie taten dies oft mit Unterstützung von Fluchthelfern, und wenn deren Namen der DDR-Stasi bekannt waren, konnte es geschehen, dass sie in den Osten verschleppt oder ermordet wurden.

Das Handbuch enthält Biographien der Opfer des unmenschlichen DDR-Grenzregimes aufgrund der Analyse von allen erreichbaren Unterlagen, Akten, Erinnerungsberichten, Aufzeichnungen von Standesämtern und Friedhofsverwaltungen, aber auch Lebensgeschichten von Zivilpersonen aus beiden deutschen Staaten, die ohne Fluchtabsichten zu Tode kamen. Hinzu kommen Schicksale deutscher und sowjetischer Deserteure, deren Fahnenflucht an der Grenze tödlich scheiterten. Zusätzliche biographische Angaben befassen sich mit Grenzsoldaten, die von westlicher Seite sowie von Fahnenflüchtigen oder den eigenen Kameraden irrtümlich erschossen wurden, weil man sie für Flüchtlinge hielt. Bei der Lektüre tun sich menschliche Abgründe etwa dort auf, wo Spitzel und Denunzianten die eigenen Leute der DDR-Justiz und der Staatssicherheit ans Messer lieferten.

Das Projekt wurde von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Monika Grütters mit 449.000 Euro gefördert. An den Gesamtkosten von 642.000 Euro beteiligten sich auch die Länder Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen. Bei der Buchvorstellung wurde bedauert, aber leider nicht ausreichend erklärt, warum sich die Freistaaten Bayern und Thüringen an der Arbeit des Forschungsverbundes nicht beteiligt und auch andere Bundesländer ohne deutsch-deutschen Grenzstreifen kein Interesse an dem Projekt bekundet haben, weil sie sich nicht betroffen fühlten.

Opfer bekommen Namen und Gesicht

Bei der Vorstellung des Buches sagte Grütters, die Erinnerung an die Schrecken des Grenzregimes an der ehemaligen innerdeutschen Grenze aufrecht zu erhalten, sei ein zentrales Anliegen bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die neuen Forschungsergebnisse würden einen wichtigen humanitären Beitrag leisten, indem sie den Todesopfern an der innerdeutschen Grenze Namen und Gesicht geben und ihrer auf diese Weise würdig gedenken. "Das sind wir den Menschen schuldig, die für Freiheit und Selbstentfaltung ihr Leben ließen. Wir stehen aber auch in der Verantwortung für eine demokratische Zukunft. Denn die Freiheit braucht auch dort Verteidiger, wo die Selbstentfaltung nicht an Mauern, Stacheldraht und Minenfeldern endet." Spätestens seitdem Demagogen, Populisten und Nationalisten auch in Deutschland wieder Zuspruch für ihre Angriffe auf demokratische Institutionen und Errungenschaften bekommen, sei offensichtlich, wie sehr wir die bitteren Erkenntnisse aus der Aufarbeitung von NS-Terrorherrschaft und SED-Diktatur brauchen. Historisches Wissen liefere für das Prinzip "Wehret den Anfängen" überzeugende Argumente.

Wie lange der Arm des ehemaligen DDR-Geheimdienstes bis in das vereinigte Deutschland reichte, zeigt der Fall des ehemaligen Bundesgrenzschutzbeamten Hans Plüschke, der 1998 regelrecht hingerichtet wurde. Er hatte 1962 bei einem Schusswechsel an der innerdeutschen Grenze den Hauptmann der DDR-Grenztruppen Rudi Arnstadt getötet. Die westdeutsche Seite stellte ihre Ermittlungen in der Überzeugung ein, dieser sei von Plüschke in Notwehr erschossen worden, und hielt Plüschkes Namen geheim. Die DDR schwor Rache, und ihre von der SED gesteuerte Propaganda erhob den erschossenen Kompanieführer zum Märtyrer, zu einem Helden im Kampf für Frieden und Sozialismus und gegen den westdeutschen Imperialismus. Nach ihm wurden Schulen, Brigaden und Militäreinheiten benannt. Die Identität des Schützen blieb den DDR-Behörden unbekannt, Plüschke befürchtete all die Jahre Rache der östlichen Seite. Nachdem aber der als Taxifahrer arbeitende ehemalige BGS-Beamte 1993 und 1997 seine Identität öffentlich gemacht hatte, wurde er am 15. März 1998 unweit des Todesortes von Arnstadt bei Wiesenfeld zwischen Thüringen und Hessen mit der gleichen tödlichen Schussverletzung aufgefunden, durch die der DDR-Grenzer ums Leben gekommen war. Wer hinter der Mordtat stand, konnte trotz polizeilicher Ermittlungen, ausgesetzter Belohnung und breiter öffentlicher Berichterstattung nicht aufgeklärt werden.

7. Juni 2017

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