"Verräter vor dem Volksgericht"
Das Unwort des Jahres 2016 ist ein besonders bösartiges Relikt aus der Zeit der Nazidiktatur



Im Kammergerichtsgebäude aus der Kaiserzeit an der Potsdamer Straße in Berlin
ist der Saal erhalten, indem die Verfahren des Volksgerichts gegen die
Verschwörer vom 20. Juli 1944 stattfanden. Hakenkreuzfahnen und Hitlerbüste
wurden nach dem Ende der NS-Diktatur entfernt.




Heimlich im Plenarsaal des Kammergerichts angefertigte Film- und Tonaufnahmen
dokumentieren das Wüten des Volksgerichtspräsidenten Roland Freisler und die
aufrechte Haltung der Angeklagten.




Schrifttafeln an der Wand nennen die Namen der von Freisler zum Tod verurteilten
Kämpfer für Einigkeit und Recht und Freiheit.




Eine Stätte des Gedenkens und des Schweigens ist das Gebäude in Plötzensee,
in dem unzählige Menschen erhängt und geköpft wurden.




Die Zeichnung von Alfred Hrdlicka schildert, wie Widerstandskämpfer an
dünnen Drähten unter dem Johlen der Henker umgebracht wurden.
(Fotos/Repro: Caspar)


Rechtsradikale und selbsternannte Deutschland-Retter haben hochrangigen Politikern wie dem Bundespräsidenten Joachim Gauck und der Bundeskanzlerin Angela Merkel wutentbrannt "Volksverräter", "Haut ab" und "Ins Gefängnis" hinterher gerufen und die Medien als "Lügenpresse" beschimpft. Beide Begriffe stammen aus dem Vokabular der Nationalsozialisten. Manche Rufer werden das vielleicht nicht wissen, und sie würden es auch zurückweisen, wenn man sie mit Hitler und seinen willigen Helfern in einem Atemzug nennen würde. "Lügenpresse" wurde 2014 zum Unwort des Jahres erklärt, der zweite Begriff kam Anfang 2017 auf die Liste. Eine aus Sprachwissenschaftlern gebildete Jury in Darmstadt sieht im Wort "Volksverräter" ein Erbe von Diktaturen.

Die es brüllen, halten sich für die einzig wahren Sprecher und Vertreter des Volkes, alle anderen rechnen sie nicht dazu. In dieser Sichtweise sind das die etablierten Parteien sowie ihre Anhänger und Wortführer und alles in allem die Verteidiger unsere demokratischen Grundordnung. Leute aus dem Lager der Pegida, Alternative für Deutschland und ähnlichen Initiativen würden laut Aktion Unwort des Jahres den Begriff "Volksverräter" undifferenziert und diffamierend gegenüber Politikern verwenden, die angeblich ihren Aufgaben nicht nachkommen und deutsche Interessen missachten. Durch ihre verbale Abqualifizierung würden ernsthafte Gespräche und für die Demokratie notwendigen Diskussionen in der Gesellschaft von vorn herein abgewürgt.

Die Aktion "Unwort des Jahres" in Darmstadt sieht sich als sprachkritische Initiative, die die Grenzen des öffentlich Sagbaren in unserer Gesellschaft anmahnen will. Die Jury besteht aus Sprachwissenschaftlern und Journalisten. Davon getrennt wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden das Wort des Jahres. Für 2016 hat sie aus einer Fülle von Vorschlägen den Begriff "postfaktisch" dazu erklärt. ".

Blicken wir in die Geschichte zurück, in die Zeit der NS-Diktatur. Da wurden so genannte Volksverräter quasi am laufenden Band vom Volksgerichtshof aufs Schafott geschickt. Das waren nicht nur Leute vom Widerstand wie die "Weiße Rose" um Hans und Sophie Scholl und Stauffenberg sowie ihre Mitstreiter, sondern auch Menschen, die wegen politischer Witze oder weil sie Juden versteckt hatten bei der Gestapo angezeigt wurden und mit denen Blutrichter Roland Freisler kurzen Prozess machte.

Roland Freisler, der Präsident des von Hitler als politisches Tribunal eingesetzten Volksgerichtshofs, schickte tausende Widerstandskämpfer in den Tod, nachdem er sie auf rüde Weise erniedrigt hatte. In seiner rasenden Wut befahl Hitler nach dem von Claus Schenk Graf von Stauffenberg ausgeführten, tragischerweise aber gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944, die Verschwörer sollen "nicht die ehrliche Kugel bekommen, die sollen hängen wie gemeine Verräter! [...] Blitzschnell muss ihnen der Prozess gemacht werden. Und innerhalb von zwei Stunden nach der Verkündung des Urteils muss es vollstreckt werden! Die müssen sofort hängen ohne jedes Erbarmen. Und das wichtigste ist, dass sie keine Zeit zu langen Reden erhalten dürfen. Aber der Freisler wird das schon machen. Das ist unser Wyschinski". Damit meinte Hitler Stalins obersten Ankläger und Großinquisitor Andrej Wyschinski.

Hitler ließ die Gerichtsverfahren im alten Kammergerichtsgebäude gegen Stauffenbergs Mitstreiter und die Exekutionen filmen. Er weidete sich an den Demütigungen, die die zuvor gefolterten und in schäbiger Kleidung vorgeführten, von Freisler als Jämmerlinge, Würstchen und Ratten bezeichneten Angeklagten erleiden mussten, erfährt man beim Besuch der Gedenkstätte Deutscher Widerstand an der Stauffenbergstraße im Tiergarten und im Kammergerichtsgebäude. Aus Angst vor der eigenen Bevölkerung wurden die Aufnahmen zu dem Streifen "Verräter vor dem Volksgericht" als Geheime Reichssache unter Verschluss gehalten. Den wenigen Personen, die die heimlich gedrehten Aufnahmen zu Gesicht bekamen, wurde im Vorspann eingeschärft, darüber strengstes Stillschweigen zu bewahren. Es sollte nicht bekannt werden, welchen Umfang die Widerstandsbewegung selbst in hohen und höchsten Kreisen angenommen hatte und unter welchen jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn sprechenden Bedingungen die Schauprozesse abliefen.

Der aus der Wehrmacht ausgestoßene Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, der nach erfolgreichem Attentat auf Hitler das Oberkommando der Wehrmacht übernehmen sollte, sagte seinem Peiniger Freisler mutig ins Gesicht: "Sie können uns dem Henker überantworten. In drei Monaten zieht das empörte und gequälte Volk Sie zur Rechenschaft und schleift Sie bei lebendigem Leib durch den Kot der Straßen." Sein Mitangeklagter Ulrich-Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld nannte als Motiv für seinen Widerstand "die vielen Morde, die im In- wie Ausland passiert sind", worauf er von Freisler niedergeschrien und als "schäbiger Lump" bezeichnet wurde. Einer der Zuhörer war der spätere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt. Entsetzt von dem widerlichen Verfahren, ließ sich der zur Teilnahme abkommandierte junge Oberleutnant von seinem Vorgesetzten wieder abrufen. Da Freisler Anfang 1945 bei einem Bombenangriff tödlich verletzt wurde, blieb ihm ein Verfahren vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg erspart.

Wie der Plenarsaal des Kammergerichtsgebäudes ist auch die ehemalige Hinrichtungsstätte Plötzensee in eine Gedenkstätte verwandelt worden. Um dort die Todesqualen der Widerstandskämpfer zu verschärfen, wurden sie auf Hitlers Befehl unter dem Grölen der angetrunkenen Henker an dünnen Telefondrähten aufgeknüpft. Die Fleischerhaken, an denen sie starben, blieben im Exekutionsraum erhalten. Eine Ausstellung nebenan berichtet von den Blutorgien, die an dieser Stätte des Grauens stattfanden, und schildert auch, wer die Opfer und wer die Täter waren.

11. Januar 2017

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte"