"65 Prozent wären ein großer Erfolg gewesen"
Was Erich Honecker nach seinem Sturz über Wahlfälschungen, Mauertote und Zensur sagte und was er verschwieg



Dem Wahlaufruf im Neuen Deutschland vom 27. Januar 1989 folgten eine massive Propagandakampagne und zahllose Selbstverpflichtungen "zu Ehren" der von vorn herein als Volksentscheid für die Politik der SED gewerteten Kommunalwahl.



Die Neinstimmen, die am Abend des 7. Mai 1989 aus den Wahlurnen fielen, wurden so gewertet, dass ein Ergebnis von rund 98 Ja-Stimmen heraus kam. Mit 65 Prozent Zustimmung hätten sich Honecker & Co. ganz bestimmt nicht zufrieden gegeben



. Dieses offizielle Porträt vor hellblauem Grund hing in allen Amtstuben, dass es auch in Kneipen zu sehen war, wurde von Honecker in dem Interviewbuch als eine Privatinitiative der Betreiber bezeichnet.







Solch plumpe Wahlpropaganda gab es schon vor 1989 in der DDR, genutzt hat sie nicht, Oppositionelle und Wahlverweigerer auf die Seite der SED zu ziehen. Das gilt auch für die vielen Mühen der DDR-Propaganda, die durch eine Auswahl von Plakaten im DDR-Museum in der Berliner Kulturbrauerei dokumentiert ist.



Treue Genossen widmeten ihrem ehemaligen Generalsekretär, Staatsratevorsitzenden und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrats diese Medaille. Solange Honecker an der Macht war, verbot er der Post, Briefmarken mit seinem Kopf zu drucken. Er führte das als Argument dafür an, dass es um ihn keinen Personenkult gab. (Fotos: Caspar)

Ein Witz in der DDR zum Thema Wahlen ging so: "Im Innenministerium wurde eingebrochen, Erich Honecker fragt beim Minister, was gestohlen wurde. ,Nichts Bedeutendes, nur die Wahlergebnisse der nächsten zehn Jahre' lautete die Antwort." Als der im Wendeherbst 1989 entmachtete, danach verhaftete und des Hochverrats beschuldigte SED- und Staatschef in einem langen Interview auch zu den Kommunalwahlen vom Mai 1989 befragt wurde, sagte er, sie als Pseudowahlen zu bezeichnen, sei "grundlegend falsch", alles sei mit rechten Dingen zugegangen. "Wahlbetrug betrachte ich als etwas Furchtbares, weil das nicht nur ein Selbstbetrug ist, sondern Betrug am Volk, um dessen Mitarbeit man doch rang." Die Losung, wonach die Wahlen die "besten" sein müssten, sei nicht vom Politbüro des ZK der SED ausgegeben worden, an dessen Spitze Honecker stand. "Bis jetzt ist mir unerklärlich, wer dies in die Partei und die Nationale Front hineingebracht hat. Für uns wäre ein Ergebnis von 65 Prozent ein großer Erfolg gewesen. Zwar hätte der Gegner dann gesagt, soundso viel sind dagegen. Aber das war nicht die Frage. Bei den Menschen hätte sich das Vertrauen gefestigt, daß das, was sie meinen, doch seinen Ausdruck findet in den Ergebnissen der Kommunalwahlen. Ich muß ganz offen sagen, daß ich hier vor einem Rätsel stehe."

Der im eigenen Land wie im Exil lebende Erich Honecker und seine Frau Margot, die ehemalige Volksbildungsministerin, konnten 1990 von den beiden Autoren Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg bewegt werden, ihnen zahlreiche Fragen zu beantworten. Aus dem Interview wurde dann das Buch "Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör". Der mit Fotos ausgestattete Band mit 455 Seiten erschien 1991 im Aufbau Verlag Berlin. Die in der DDR aufgewachsenen Autoren versichern im Vorwort, alles, was in dem Buch zu lesen ist, sei so gesagt worden. "Man hätte sicher mehr, anders und tiefer fragen können. Der stark angegriffene Gesundheitszustand beider, der täglich nur eine sehr begrenzte Interviewszeit erlaubte, und der Zeitdruck in diesem nervierenden Abschnitt unserer Geschichte setzten hier Grenzen." Die Interviewer hätten sich nicht als Fachhistoriker, Juristen, Psychologen oder Politiker verstanden, sondern als künstlerisch arbeitende Menschen aus der tiefen Betroffenheit einer Generation, "die vor den Trümmern ihrer Ideale steht und nach der Verantwortung dafür nicht nur bei den Interviewten, sondern auch bei sich selbst." Es sei sehr schwer gewesen, das dogmatisch festgefügte Geschichts- und Gesellschaftsbild er Honeckers zu hinterfragen.

Erinnerungslücken und gutes Gedächtnis

Das klingt wie eine Bitte an die Leser um Verzeihung und Verständnis, und man kann heute nur bedauernd sagen, hätten Andert und Herzberg hätten genauer und tiefer nachfragen sollen und müssen, dann wäre deutlicher zum Ausdruck gekommen, was zum Sturz des mächtigsten Mannes in der DDR geführt hat, zu seinem ruhmlosen Abgang in den Orkus der deutschen Geschichte. So aber hat das Ehepaar Honecker immer wieder Gelegenheit, sich als verfolgte Unschuld auszugeben und sich aus der Affäre zu ziehen, indem es sich auf Erinnerungslücken beruft und angibt, über bestimmte Personen und Ereignisse nichts sagen zu wollen und zu dürfen. Auf der anderen Seite erstaunt Honecker durch sein gutes Gedächtnis dort, wo es ihm in den Kram passt und er sich als mutiger Antifaschist und Volkstribun präsentieren kann. Doch auch so ist das Buch ein interessantes Zeitdokument, und zwar über das, was Erich und Margot Honecker sagen und vor allem auch das, was sie mit beredetem Schweigen übergehen. Da 1990 gegen den ehemaligen Partei- und Staatschef und obersten Mann in Sicherheits- und Militärangelegenheiten ermittelt wurde und ihm ein Prozess bevorstand, der dann aber zu keiner Verurteilung führte, musste er wohl in seinen öffentlichen Äußerungen vorsichtig sein, denn die Staatsanwaltschaft las ja mit.

Bei genauerer Nachfrage hätte Honecker einräumen müssen, dass es 1989 wie in all den Jahren zuvor sehr wohl Festlegungen im Politbüro gab, wer und was mit welchem Ergebnis zu wählen ist und wie Leute zu behandeln sind, die sich dem mit massiver Propaganda und Selbstverpflichtungen begleiteten Wahlaufruf entziehen und in der Kabine sogar ihr Kreuzchen bei "Nein" machen. 65 Prozent Zustimmung wäre für Honecker in Ordnung gewesen, das glaubten er und seine Leute doch wohl selber nicht!

Markstein auf dem Weg in den Abgrund

Die Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 waren ein Markstein auf dem Weg der DDR in den Abgrund. In einer Situation, da die Wirtschaft des zweiten deutschen Staates kollabierte, sich in den Genehmigungsstellen Anträge auf "ständige Ausreise" türmten und sich nun auch die Opposition mit der Forderung nach wirklicher Demokratie zu Wort meldete, sollte die Stimmenabgabe für die Kandidaten der Nationalen Front, wie man sagte, nach dem Willen der SED-Führung so etwas wie ein "überwältigendes Votum" für den Kurs der Partei und ihres Generalsekretärs Erich Honecker werden. Wie gewohnt, kam dieses Votum von etwa 98 Prozent Ja-Stimmen durch Fälschung, Manipulation und Einschüchterung zustande.

Da mit Komplikationen gerechnet wurde und Bürgerrechtler die genaue Beobachtung des Wahlaktes angekündigt hatten, wurden das Ministerium für Staatssicherheit und die Volkspolizei in höchste Alarmbereitschaft versetzt. In einem Brief an seinen Generalsekretär drückte der SED-Sekretär für Sicherheitsfragen im Politbüro, Egon Krenz, der zugleich oberster Wahlleiter war, seine Befürchtung aus, "dass gegnerische Kräfte, insbesondere wiederum jene, die ,unter dem Dach der Kirche' agieren, verstärkt in den Wahlbüros jede Handlung der Wahlvorstände beobachten, um an eventuellen unkorrekten Handlungen die Nichteinhaltung der wahlrechtlichen Bestimmungen ,nachzuweisen'". Als es die DDR ein Jahr später nicht mehr gab, behauptete Krenz, die Kontrolle durch 300 000 Wahlhelfer sei für ihn der Beweis gewesen, "dass diese Wahlergebnisse dem entsprachen, was aus den Kreisen und Bezirken gemeldet wurde".

Wie jede Stimmabgabe in der DDR, so war auch diese Kommunalwahl im Mai 1989 keinesfalls frei und demokratisch, mochte Honecker das mit frommem Augenaufschlag so oft betonen wie er wollte. Wer nicht erschien beziehungsweise wer in eine Kabine ging, um vermutlich dort mit "Nein" zu stimmen oder den Wahlzettel ungültig zu machen, wurde namentlich festgestellt und hatte mit Sanktionen zu rechnen. Dass der eine und die andere trotz aller Sanktionen riskierten, resultiert aus dem Mut der Verzweiflung und beweist großen Mut und angestauten Frust. Sicher auch wollten manche Wahlverweigerer die Behörden provozieren und Forderungen, etwa für eine bessere Wohnung, durchsetzen, was manchmal sogar geklappt haben soll.

Beeinflusst haben die wirklichen Neinstimmen den schamlos frisierten Ausgang der Wahl - 98,85 Prozent Jastimmen bei 98,78 Prozent Beteiligung nicht. Eine direkte Einflussnahme der SED-Spitze auf die "Gestaltung" der Ergebnisse konnte nicht nachgewiesen werden. Wohl aber ist unbestritten, dass sich die Behörden bereits auf unterer Ebene ähnlich wie beim üblichen Hochschwindeln von ökonomischen Daten und Wettbewerbsergebnissen gegenseitig zu übertreffen suchten. Denn welcher Bürgermeister oder Kreisvorsitzender wollte durch Abweichungen von den üblichen 99 Prozent unangenehm auffallen, schon gar nicht mit nur 65 Zustimmung, die Honecker in dem erwähnten Buch für annehmbar hielt. Also ließ man eben gezählte Neinstimmen unter den Tisch fallen und manipulierte die Resultate.

Mit den Ergebnissen der Wahl gaben sich aufgebrachte Bürgerrechtler und Kirchenvertreter nicht zufrieden. Als Zuschauer bei der Auszählung hatten sie festgestellt, dass die von ihnen mitgezählten Neinstimmen bei den später veröffentlichten Angaben nicht auftauchten. Ihre Anträge, die Zählweise gerichtlich nachprüfen zu lassen, verpufften ungehört. Stasiminister Mielke befahl, Anzeigen wegen Wahlfälschung "ohne Kommentar entgegenzunehmen", jedoch nicht zu bearbeiten und "nach Ablauf der vorgesehenen Fristen" dahingehend zu beantworten, "dass keine Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen". In einem Geheimbefehl drohte Mielke mit "strafprozessuralen Maßnahmen" gegen einen "engen, offen feindlich handelnden Personenkreis". Doch da man die Stimmung mit Blick auf die bevorstehenden Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989 nicht weiter anheizen wollte, blieb es bei Einschüchterungsversuchen. Honecker, Krenz, Mielke und andere gebärdeten sich nach ihrem Sturz als reine Unschuldslämmer und bestritten jede Mitwirkung an dem Verfassungsbruch. Gerichtsverfahren zum Thema Wahlfälschung endeten im vereinigten Deutschland mit milden Urteilen oder Freisprüchen.

Machtmissbrauch in der DDR? Hat es nicht gegeben

Wie bei den Fragen nach den Kommunalwahlen verweigerten Erich und Margot Honecker klare Antworten auch auf Fragen etwa nach der Mauer und den Mauertoten, nach der miesen Versorgungslage, den Umtrieben der Stasi, dem latenten Antisemitismus in der DDR, der Sputnik- und der Biermann-Affäre, dem Wirken der Zensur und nach anderen für sie peinlichen Kapiteln der DDR-Geschichte einschließlich der Beweggründe, die zu Honeckers Sturz am 18. Oktober 1989 führten. Der Zufall wollte es, dass das auch ein Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht von 1813 war, weshalb es in der Messestadt eine Straße des 18. Oktober gibt. Nicht die 200 Toten an der Mauer tun dem ehemals mächtigsten Mann in der DDR leid, er fühlt sich nur zu dieser herzlosen Antwort bereit: "Mir tun unsere 25 Genossen leid, die meuchlings an der Grenze ermordet wurden. Entsprechende Ersuche von uns an die damalige Regierung der Bundesrepublik, diese Leute an uns auszuliefern, wurden negativ beantwortet."

Honecker wird diejenigen gemeint haben, die an der Demarkationslinie Schüsse auf DDR-Grenzer abgegeben haben, aber er tut das in seiner verquasten Funktionärssprache und vermeidet eine klare Analyse. Auch wischt er Fragen nach den Ursachen der Fluchtbewegung vom Tisch und lässt sich nicht darauf ein, die Errichtung der Mauer als Bankrotterklärung des Sozialismus zu bewerten, wie es eine Frage von Andert und Herzberg nahelegt. Stattdessen verweist Honecker auf das Grenzregime im Westen und den dort vorgeschriebenen Schusswaffengebrauch gegenüber Personen, die auf den Warnruf von Polizisten "Halt, stehenbleiben" einfach weiter laufen.

Offensichtliche Verfassungsbrüche, selbstherrliche Fehlentscheidungen und schamlose Lügen, die allesamt von den Politbürokraten rund um Erich Honecker und seinen Vorgänger Walter Ulbricht zu verantworten waren, werden nicht zur Kenntnis genommen oder schlichtweg ausgeklammert und abgestritten. Machtmissbrauch und Zensur in der DDR? Hat es nicht gegeben. Flächendeckendes Spitzelsystem der Stasi nach dem Motto "Wir sind überall, wir müssen alles wissen", ich weiß nicht, was Sie meinen. Korruption, Günstlingswirtschaft, Schlemmerleben im Funktionärsgetto Wandlitz, eine maßlose Übertreibung, andere DDR-Bewohner haben luxuriöser gelebt. Zusammenbrechende Altstädte, Umweltverschmutzung ohnegleichen, Indoktrinierung der jungen Generation, von oben "angeleitete" Medienpolitik und einseitige Propaganda - man könnte noch vieles aufzählen, was das Ehepaar Honecker weit von sich wies. Auf die Frage nach Privilegien und so genannten Schweizer Konten, über die es in der "Wendezeit" sagenhafte Gerüchte gab, sagte Honecker kurz und bündig: "Jedenfalls ist es so, daß mein Gewissen rein ist. Ich habe keinen Pfennig auf Kosten des Staates gelebt". Doch wenn man in Bücher und Aussagen von Leuten aus seiner Umgebung liest, dann gab der begeisterte Hobbyjäger Unsummen für seine Leidenschaft aus und beschäftigte zahllose Leute, die anderswo besser gebraucht worden wären.

26. Mai 2017 - Siehe zu Margot Honecker auch einen Beitrag auf dieser Internetseite/Geschichte vom 9. Mai 2016

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