Massenmord im Geist der "Endlösung"
Naziregime ließ eine halbe Million Sinti und Roma in Auschwitz vergasen, doch wollte man davon nach 1945 nichts hören





Auf dem Gelände eines ehemaligen "Zigeunerlagers" im Ortsteil Marzahn werden die Verbrechen der nationalsozialistischen Rassehygieniker sowie die Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung von einer halben Million Sinti und Roma dokumentiert. Die Fotos aus den 1930-er Jahren zeigen, unter welchen Umständen die Menschen vegetieren mussten.



Die Topographie des Terrors auf dem ehemaligen SS- und Gestapogelände an der Berliner Wilhelmstraße/Niederkirchnerstraße berichtet über die Verbrechen, unter denen in Hitlerdeutschland auch die Sinti und Roma leiden mussten. Dort ist auch das Foto von Mitarbeitern der "Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" zu sehen.



Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager fordern die Anerkennung ihrer Leiden und Entschädigungen. Das Dreieck auf dem Mantel rechts zeigt ein Z, mit dem die Nationalsozialisten in ihren Konzentrationslager Menschen als "Zigeuner" gekennzeichnet haben.



Der Brunnen in der Nähe vom Reichstagsgebäude und Sitz des Deutschen Bundestags erinnern ein Brunnen und darum stehende Bild- und Texttafeln an die Ermordung von einer halben Million Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten.



Auf dem Friedhof in Berlin-Marzahn wird an die verfolgten und ermordeten Sinti und Roma erinnert, doch auch eine Tafel am Eingang zur Neuen Wache Unter den Linden zieht sie in das ehrende Gedenken ein. (Fotos/Repros: Caspar)

Nicht nur Juden wurden von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet, auch Sinti und Roma ereilte das gleiche Schicksal. Zuständig für die systematische Verfolgung der Sinti und Roma war die so genannte Zigeunerdienststelle, die 1938 in das "Reichskriminalamt zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" umgewandelt wurde. Während sich dieses Amt für die Erfassung der "Zigeuner" sorgte, wurde beim Reichsgesundheitsamt eine, wie es damals hieß, rassenhygienische und bevölkerungspolitische Forschungsstelle eingerichtet. Finanziert wurde diese Behörde von der mit der NS-Politik eng verbundenen Deutschen Forschungsgemeinschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik unter dem gleichen Namen neu gegründet wurde. Robert Ritter, der Chef der Zigeuner-Dienststelle, behauptete, Sinti und Roma seien ein Volk mit ausgeprägt kriminellen Eigenschaften, die von Generation zu Generation genetisch vererbt werden, was sie so sehr gefährlich macht. Er forderte, das deutsche Volk von dieser "Last" zu befreien. Vor allem die als besonders asozial eingestuften Mischlinge müssten in Arbeitslager eingewiesen werden, und auch ihre Fortpflanzung müsste durch Sterilisation unterbunden werden.

Es blieb nicht bei Überlegungen und Forderungen dieser Art, denn die von Ritter und seine Behörde erstellten Unterlagen wurden für die Verhaftung und Deportation ganzer Familien in die Konzentrationslager verwendet. Dem Gedenken an die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma ist eine Tafel am Haus Thielallee 88-92 in Zehlendorf gewidmet. In dem Gebäude, das heute das Bundesinstitut für Risikobewertung beherbergt, befand sich die von Ritter geleitete Rassehygienische und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle, die aktiv an der Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma mitwirkte. Das von ihr gesammelte Material wurde nach 1945 in der Bundesrepublik weiter von den Behörden genutzt, keinem ihrer Mitarbeiter ist etwas geschehen. Robert Ritter überlebte die NS-Zeit unbeschadet, wie andere Mediziner auch. Er brachte es bis zum Stadtrat in Frankfurt am Main und starb ohne Schuldgefühle 1951, zehn Jahre nach seinen menschenverachtenden Vorschlägen und pseudowissenschaftlichen Forschungen.

Vernichtung durch Giftgas und Arbeit

Aufgrund des Auschwitz- beziehungsweise Zigeuner-Erlasses, den Reichsführer SS Heinrich Himmler vor 75 Jahren, am 16. Dezember 1942, unterschrieb, wurden 23 000 Sinti und Roma aus elf Ländern Europas nach Auschwitz-Birkenau verschleppt, wo fast alle in den Gaskammern ums Leben kamen. Die letzten 3000 Kinder und ihre Mütter sowie alte Leute starben am 2. August 1944. In einem Schnellbrief an die Leiter der Kriminalpolizeistellen vom 29. Januar 1943 befahl das Reichssicherheitshauptamt unter Berufung auf den Erlass, "Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen. [...] Diese Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad familienweise in das Konzentrationslager (Zigeunerlager) Auschwitz. [...] Die Einwilligung zur Unfruchtbarmachung der über 12 Jahre alten, aber noch nicht sterilen zigeunerischen Personen ist anzustreben. [...] Im Falle der Weigerung entscheidet nach Darlegung der Gründe das Reichskriminalpolizeiamt über das zu Veranlassende." Bereits am 17. September wurde zwischen dem Reichsjustizministerium und der SS vereinbart, dass "Asoziale Elemente aus dem Strafvollzug, Juden, Zigeuner, Russen, Ukrainer [sollen] an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit ausgeliefert werden" sollen.

Die Ärztin Lucie Adelsberger wurde 1943 mit weiteren Berliner Juden nach Auschwitz deportiert, wo sie die Häftlingsnummer 45171 erhielt. Im Zigeuner- und Frauenlager des KZ Auschwitz-Birkenau als Häftlingsärztin eingesetzt, sah sie furchtbares Elend, über das sie nach ihrer Befreiung 1945 berichtete. "Die Kinder waren wie die Erwachsenen nur noch Haut und Knochen ohne Muskeln und Fett, und dünne pergamentartige Haut scheuerte sich über den harten Kanten des Skeletts überall durch. [...] Aber die Not dieser Würmer schnitt noch mehr ins Herz. Vielleicht, weil die Gesichter alles Kindliche eingebüßt hatten und mit greisenhaften Zügen aus hohlen Augen guckten." Krätze hätte den unterernährten Körper von oben bis unten bedeckt und ihm die letzte Kraft entzogen, schrieb die ehemalige Häftlingsärztin. "Vor Hunger und Durst, Kälte und Schmerzen kamen die Kinder auch nachts nicht zur Ruhe. Ihr Stöhnen schwoll orkanartig an und hallte im ganzen Block wider."

Bundesrichter sprachen von "Zigeunerplage"

Die Morde geschahen im Schatten und im Geist der Endlösung der Judenfrage und wurden nach 1945 kaum zur Kenntnis genommen, ja sogar geleugnet. Der Bundesgerichtshof behauptete in der frühen Bundesrepublik, der Tod von einer halben Million Sinti und Roma habe nicht stattgefunden, allenfalls habe es die üblichen polizeilichen Präventivmaßnahmen gegen die "Zigeunerplage" gegeben. Mit dem Hinweis, die Sinti und Roma würden zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien neigen und es würden ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung von fremden Eigentum fehlen, wies das Gericht Schuldeingeständnisse der Mörder und Entschädigungsansprüche ihrer Opfer ab. Es bediente sich der gleichen Argumentation, die schon während der NS-Zeit Grundlage der Mordmaßnahmen war. "Zigeunern" sei ein ungehemmter Okkupationstrieb wie primitiven Urmenschen eigen, erklärte das oberste Zivilgericht der Bundesrepublik.

Dies geschah in einer Zeit, als zahlreiche NS-Täter in Amt und Würden waren und Staatsanwaltschaften nur in Ausnahmefällen Ermittlungen aufnahmen und Gerichte Urteile aussprachen. In der Regel waren das geringe Freiheitsstrafen oder nur Bewährungsstrafen. Es dauerte lange Zeit, bis 1982 Bundeskanzler Helmut Schmidt feststellte, dass den Sinti und Roma während der NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt wurde und diese Verbrechen den Tatbestand des Völkermords erfüllen. Bundespräsident Roman Herzog erklärte 1997, der Völkermord an den Sinti und Roma sei aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns und dem gleichen Willen zur Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden.

Nach zwanzigjähriger Vorbereitung sowie manchen Querelen und Rückschlägen wurde am 24. Oktober 2012 unweit des Reichstagsgebäudes im Berliner Tiergarten das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas feierlich eingeweiht. In Anwesenheit von Bundespräsident Joachim Gauck, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Bundeskanzlerin Angela Merkel, des Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma Romani Rose sowie von Überlebenden des nationalsozialistischen Völkermords und weiteren Gästen erklärte sichtlich erleichtert der damals für das Projekt zuständige Kulturstaatsminister Bernd Neumann: "Dieses Denkmal macht unmissverständlich deutlich, dass wir die Verbrechen an den Sinti und Roma nicht verdrängen und nicht vergessen, sondern dass wir den Opfern ein würdiges Andenken bewahren."

Das Denkmal sei nicht nur Teil der Erinnerung, "sondern vor allem auch eine eindringliche Mahnung und Aufforderung für die Zukunft, gegen die Diskriminierung von Sinti und Roma anzugehen und sich immer wieder für Menschenrechte, Toleranz und den Schutz von Minderheiten einzusetzen - hier in Deutschland und darüber hinaus". In der deutschen Erinnerungskultur der von dem israelischen Künstler Dani Karavan Brunnen der Erinnerung ein wichtiger Baustein. Mit ihm werde dokumentiert, dass der Völkermord an den von den Nazis als "artfremd" eingestuften Sinti und Roma Teil des historischen Gedächtnisses unseres Landes ist. Es sei den unzähligen Menschen gewidmet, die in der Nazizeit als sogenannte Zigeuner verfolgt und ermordet wurden. Dani Karavan sei ein ebenso eindringliches wie sensibles Kunstwerk gelungen. Täglich zur Mittagsstunde wird eine frische Blume auf ein Dreieck in der Mitte des wie mit schwarzem Wasser gefüllten Brunnens gelegt, dazu ist ein unterirdischer Mechanismus eingerichtet worden.

Erste Überlegungen zur Errichtung eines nationalen Denkmals zur Erinnerung an die 500 000 von den Nazis ermordeten deutschen und europäischen Sinti und Roma reichen in das Jahr 1992 zurück, doch erst sieben Jahre später beschloss der Deutsche Bundestag, für sie ein Denkmal zu errichten und damit die Verpflichtung Deutschlands zu unterstreichen, dieser lange offiziell nicht zur Kenntnis genommenen Opfergruppe würdig zu gedenken. 2005 haben der Bund und das Land Berlin den Bau des Denkmals in einem kleinen Waldstück gegenüber dem Reichstagsgebäude vereinbart. Schon bald gab es Diskussionen unter den Opferverbänden über den Widmungstext, der ursprünglich das von ihnen als diskriminierend empfundene Wort "Zigeuner" enthielt. So blieben erhebliche zeitliche Verzögerungen nicht aus.

Zerrissenes Herz ohne Atem

Um das Denkmalprojekt voranzubringen, wurde eine "Chronologie des Völkermordes an den Sinti und Roma" erarbeitet. Die Tafeln sind in der Nähe des Brunnens aufgestellt, auf dessen Rand die Inschrift nach einem Gedicht von Santino Spinelli "Eingefallenes Gesicht erloschene Augen kalte Lippen ein zerrissenes Herz ohne Atem ohne Worte keine Tränen" eingelassen ist. In den Rasen rund um den Brunnen eingelegte Steinplatten tragen die Namen von Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie weiterer Leidenstätten, in denen Sinti und Roma an der Seite von Juden und anderen als "lebensunwert" diskriminierten Menschen gefangen gehalten und ermordet wurden. Der Bund hat den Bau des Denkmals mit rund 2,8 Millionen Euro finanziert, das Land Berlin stellte das Grundstück zur Verfügung. Die Betreuung und den Schutz der Anlage übernimmt die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Ergänzend zu den Inschriften rund um den Brunnen der Erinnerung zeigten der Zentralrat und das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in der Topographie des Terrors an der Niederkirchnerstraße 8 im Bezirk Kreuzberg die Sonderausstellung "Denkmal weiter". Sie belegte eindrucksvoll die Verfolgung und Diskriminierung der Sinti und Roma vor, während und nach dem Nationalsozialismus anhand von Fotos und Dokumenten. Ergänzend dazu fanden Vorträge und Lesungen statt, in denen Opfern des Massenmords Gesicht und Stimme gegeben wurden.

Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, sagte bei einer Gedenkstunde am 75. Jahrestag von Himmlers Zigeuner-Erlass im ehemaligen Konzentrationslage Sachsenhausen bei Oranienburg, der 16. Dezember 1942 markiere wie kaum ein anderes Datum den tiefen Einschnitt in der Geschichte dieser unserer Minderheit ebenso wie in unserer gemeinsamen deutschen Geschichte. "Damit hatten sich die radikalen ,Vernichtungspolitiker' mit ihrem völkischen Denken durchgesetzt, das auf die sogenannte ,Reinheit der Rasse' durch die Vernichtung aller nicht zur Volksgemeinschaft zählenden Menschen setzte." In Zeiten, in denen in Europa ein neuer, kranker Nationalismus um sich greife, müssten wir uns gegen jedes neu aufkeimende "völkische Denken" zur Wehr setzen, denn Deutschland und Europa bräuchten einen Patriotismus, der auf den Werten von Demokratie und Rechtsstaat beruht. Günter Morsch, der Direktor der Gedenkstätte, erinnerte am Beispiel des Schicksals von Reinhold Laubinger an mörderische Experimente im KZ Sachsenhausen an Sinti und Roma und anderen Häftlingen. Die Fleckfieberversuche seien das Schlimmste gewesen, was man sich vorstellen kann. Die Qualen, unter denen die Opfer zu leiden hatten, hätten, wenn diese die Hölle der Konzentrationslager überlebt hatten, auch vor ihren Nachkommen nicht Halt gemacht. Die Überlebenden seien weiterer Grausamkeiten ausgesetzt gewesen, um als Opfer des NS-Völkermords anerkannt zu werden. Die Diskriminierungen der Sinti und Roma nach 1945 hätten angehalten, während die Täter zumeist unbehelligt blieben.

17. Dezember 2017

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