Riesiger Aufwand bei Bespitzelung
IM-Akte über den heutigen Zeitungsverleger Holger Friedrich sagt viel über Arbeitsweise der Stasi aus





Im Stasimuseum an der Lichtenberger Normannen- und Ruschestraße erfährt man alles über das Mielke-Ministerium, das sich als Schild und Schwert der Partei verstand, es aber nicht vermochte, diese und den so genannten Arbeiter-und-Bauernstaat vor 30 Jahren vor dem Untergang zu bewahren. Oben eine Stele mit Hinweisen, darunter das Vestibül von Haus 1, in dem Minister Erich Mielke sein Imperium regierte.











Was unzählige hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter des MfS viele Jahrzehnte hindurch beobachtet, mitgelesen, fotografiert, abgehört und sonst wie erschnüffelt haben, füllt viele Aktenkilometer. Da nicht alle Unterlagen vernichtet wurden, müssen manche "Ehemalige" auch 30 Jahre später befürchten, dass ihre Spitzeldienste öffentlich gemacht werden. Das hat in der Vergangenheit manche Karriere zerstört. (Fotos aus dem Stasi-Museum Berlin-Lichtenberg: Caspar)

Auch heute kommen im Zusammenhang mit den Machenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit Dinge ans Tageslicht, die die betreffenden Personen gern für sich behalten hätten. Die Akten können belasten, aber auch entlasten, sie sprechen manchmal eine klare Sprache und manchmal sind sie verklausuliert und schwer einzuschätzen. Prominentes Beispiel dafür, wie man in die Fänge von Mielkes Geheimdienst geraten und wie man sich ihm entwinden konnte, ist die im November 2019 bekannt gewordene IM-Akte von Jörg Friedrich, des neuen Eigentümers der Berliner Zeitung und des Berliner Kurier. Mitte November hatte die "Welt am Sonntag" öffentlich gemacht, dass der junge Friedrich in seiner Armeezeit von 1988 bis 1989 Inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit war. Der Vorgang schlug hohe Wellen und wurde von der Konkurrenz der Berliner Zeitung weidlich und auch mit Häme ausgeschlachtet. Sie sei wieder in Stasihand, hieß es damals. Das Blatt wies darauf hin, dass es sich vor einigen Jahren von früheren Stasileuten getrennt hat und schon lange einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit als "Organ der SED-Bezirksleitung der SED" gezogen hat.

Am 13. Dezember 2019 veröffentlichte die Berliner Zeitung auf sechs Druckseiten ein Gutachten von Marianne Birthler, der früheren Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde, und des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk zur IM-Akte Holger Friedrich. Die Experten legten ihre Erkenntnisse aus dem Studium der Unterlagen dar, enthielten sich aber einer politischen und moralischen Bewertung von Friedrichs "Opferakte", in der die Vorgeschichte der unter Druck erfolgten Anwerbung nachzulesen ist. Der Begriff Opferakte unterstreicht die Tatsache, dass der junge NVA-Soldat über seine eigene Unvorsichtigkeit und vielleicht auch Naivität gestolpert ist. Dank der Ereignisse im so genannten Wendeherbst 1989 wurde er von Mielkes Leuten in Ruhe gelassen. Diese hatten mit der Abwicklung ihres Ministeriums, der Vernichtung brisanter Akten, der Verwischung von Spuren und dem Aufbau einer neuen Kariere genug zu tun.

Unvorsichtiger Scherz mit bösen Folgen

Das SED-Mitglied Holger Friedrich hatte sich mit Blick auf ein Studium für drei Jahre Dienst bei der Nationalen Volksarmee der DDR verpflichtet. Von diesem Dienst zutiefst enttäuscht, trug er sich mit Fluchtgedanken und sogar bewaffneten Anschlägen, wie die Stasi durch Briefkontrollen herausfand. Allerdings nannte Friedrich seine Pläne am Ende eines sichergestellten Briefes an einen Bekannten einen "Scherz". Die Stasi sah das anders, nahm Ermittlungen auf und erpresste Friedrich, für sie als IM zu arbeiten. Da er dazu aber nicht bereit war, machte er sich Mielkes Leuten besonders verdäch-tig. Friedrich wurde bei einem Urlaub mit seiner Freundin 1987 rund um die Uhr bewacht und beobachtet. Im Gutachten wird der dabei betriebene Aufwand so beschrieben: "Vom 18. bis 24. September 1987 verbrachte Friedrich einen Erholungsurlaub in Berlin. In dieser Zeit wurden er und seine Freundin nahezu lückenlos vom MfS überwacht (BStU, MfS, AOP 2051/88, Bd. 1, Bl. 228-249). Zum Einsatz kamen 16 MfS-Mitarbeiter, mehrere Autos, Foto- und Funktechnik. Außerdem wurden ein Polizeirevier sowie zwei Klubhäuser und deren stellvertretende Vorsitzenden in die Überwachung einbezogen."

Mit einem Nachschlüssel verschafft sich die Stasi Zugang zu Friedrichs Wohnung, um belastendes Material zu kopieren. Seine mit abenteuerlichen Überlegungen gespickten Briefe und Briefentwürfe wurden gegen ihn verwertet. Warum er sie "verschriftlicht" hat, bleibt sein Geheimnis, denn man wusste ja, dass alles beschnüffelt und abgehört wird, auch und vor allem bei den "bewaffneten Organen". Abschließend stellen die Gutachter fest: "Der IM-Vorgang ,Peter Bernstein' ist im September 1989 beendet und im November 1989 ordnungsgemäß im Archiv des MfS (Abt. XII) abgelegt worden. Holger Friedrich ist am 28. August 1989 aus dem Armeedienst entlassen worden (BStU, MfS, Kartei-karte HA I/Äußere Abwehr/ZPDP). Nach eigenen Angaben begann er an der Pädagogischen Hochschule Potsdam einen Lehrgang, um in kürzester Zeit die Hochschulreife zu erwerben. Aus dieser Zeit stammt auch die letzte bekannte Notiz des MfS über Holger Friedrich. In einer Information der Bezirksverwaltung Potsdam des MfS (ZMA A1365), die sich auf einer Karteikarte handschriftlich niederschlägt, vermerkte ein MfS-Mitarbeiter am 1. November 1989: ,macht an PäHo Pdm politische Schwierigkeiten' (BStU, MfS, Karteikarte HA 1/LSK -Rückseite). Acht Tage später fiel die Mauer."

Darf man allen Berichten glauben?

Birthler und Kowalczuk stellen in ihrem Gutachten ganz allgemein weiter fest: "Diese Unterlagen sind nicht mit dem Wissen angelegt worden, dass sie einmal für die historische Forschung oder politische Aufarbeitung des SED-Regimes genutzt werden würden. Innerhalb des MfS gab es sehr klare Regeln, wie solche Vorgänge geführt, welche Formblätter wofür und wann genutzt werden müssen, wie die Vorgänge durch die dienstlichen Vorgesetzten zu kontrollieren oder in welchen Zeiträumen welche Aufgaben zu erledigen seien. Das MfS orientierte schon frühzeitig darauf, solche Vorgänge zu ,objektivieren', wie es oft in den Vorgängen selbst oder in den Arbeitsaufträgen an die MfS-Mitarbeiter hieß. Jede Akte war danach so zu führen, dass sie jederzeit von einem anderen Mitarbeiter übernommen und ohne große Zeitverluste weitergeführt werden könne. Gleichwohl enthalten auch MfS-Unterlagen subjektive Einschätzungen und Eigenwilligkeiten in der Aktenführung. Vieles in solchen Vorgängen betrifft außerdem dritte Personen (daher auch die oben erwähnte Diskrepanz zwischen uns zur Verfügung gestellten Kopien und dem tatsächlichen Aktenumfang). Ein erheblicher Teil besteht aus MfS-internen Analysen, Dokumenten, Arbeitsaufträgen usw. Anstelle unmittelbarer finden sich oft nur indirekte Informationen: Zum Beispiel wurden abgehörte Telefongespräche nur selten abgeschrieben, meist finden sich ,nur' Zusammenfassungen solcher Telefonate in den Vorgängen. Diese können in erheblichem Maße vom tatsächlichen Inhalt des Gesprächs abweichen. Auch viele IM-Berichte sind zum Beispiel von einem Führungsoffizier geschrieben und nach Tonbandaufzeichnungen zusammengefasst worden. IM- oder OV-Vorgänge stellten immer auch einen Arbeits-nachweis der damit befassten MfS-Offiziere dar, der innerhalb ihrer Institution (MfS) und ihren Dienstvorgesetzten gegenüber dokumentieren sollte, wie sie ihrer Arbeit nachgekommen und ihre Aufgaben erledigt hatten. Mit anderen Worten: Viele Bewertungen durch die MfS-Mitarbeiter hatten einen Adressaten, nämlich den jeweiligen Dienstvorgesetzten. Dieser kontrollierte permanent die Arbeit seiner Untergebenen und prüfte - auch im Vergleich mit anderen Unterlagen - die Angemessenheit und Zielstrebigkeit des Vorgehens seiner Untergebenen auch anhand der Akteninhalte. Aber auch diese Kontrollen unterlagen Beschränkungen: aus vielerlei praktischen Gründen, vor allem aber auch, weil die politisch-ideologische Einschätzung durch die MfS-Mitarbeiter die vermuteten Erwartungen der Vorgesetzten vorwegnahm."

Sich selber abgeschafft

Da vor 30 Jahren riesige Aktenbestände des MfS der Vernichtung entgingen, konnte viele Spitzel und ihre Machenschaften entlarvt werden. Gut für die, deren Akten auf Nimmerwiedersehen im Orkus der Geschichte verschwanden, schlecht für die, deren Tätigkeit für den DDR-Geheimdienst irgendwie und irgendwann ans Tageslicht gelangten. Wenn sich wie im Fall von Holger Friedrich zeigt, unter welch erpresserischen Bedingungen die Kollaboration mit der Stasi zustande kam und wie sie wieder beendet wurde, muss man dankbar sein, dass es diese Unterlagen gibt. Mit anderen Worten: Es war im zweiten deutschen Staat möglich, sich der allmächtigen Stasiskrake zu verweigern. Manche IM schieden, wie das Beispiel Friedrich lehrt, wegen mangelhafter Eignung wieder aus, manche lieferten nichtssagende Informationen, und bei manchen hat die friedliche Revolution dafür gesorgt, dass die auf tönernen Füßen stehende Stasi sich selber abschaffen musste.

22. Dezember 2019

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