Ersatz für Träume
Das idyllische Woltersdorf bei Berlin wurde nach dem Ersten Weltkrieg ein Zentrum deutscher Filmkunst



Woltersdorf bei Berlin avancierte nach dem Ersten Weltkrieg zur Filmstadt. Im Aussichtsturm auf dem Kranichsberg kann man einiges zu diesem Thema erfahren.



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Die Kulissen für den Abenteuerstreifen "Der Tiger von Eschnapur" und andere Stummfilme sind schon lange vergangen. Bruchstücke werden im Aussichtsturm auf den Woltersdorfer Kranichsbergen gezeigt. Sie zeigen, dass sich Kunsthandwerker große Mühe um Authentizität gaben.



Joe und Mia May - auf dem Foto rechts als "Herrin der Welt" - gingen 1933 in die USA. Mia beendet nach dem Suizid der gemeinsamen Tochter Eva 1924 ihre bis dahin erfolgreiche Karriere als Schauspielerin.



Eine Tafel unweit der Schleuse am Weg zur Filmausstellung auf dem Kranichsberg weist auf eine Woltersdorfer Sehenswürdigkeit. Leider sind die Liebesquelle versiegt und der dazu gehörende Brunnen trocken.



Im Berliner Kino Babylon wird ab und zu eine originale Kinoorgel zu alten Stummfilmen angestimmt. (Fotos: Caspar)

Millionen Menschen gefilmte Traumbilder zu schenken, schrieb sich nach dem Ersten Weltkrieg der aus Wien stammende Filmproduzent und Regisseur Joe May auf die Fahnen, und er machte Woltersdorf zu einem der wichtigsten Filmstandorte im Deutschen Reich. An den Ufern des Kalksees in Woltersdorf und den Kalksteinbrüchen in der Nachbargemeinde Rüdersdorf wurde Filmgeschichte geschrieben. Woltersdorf war ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner, sie erreichten die malerisch gelegene Gemeinde mit der S-Bahn, die in Erkner endete, beziehungsweise mit der Straßenbahn, Kutsche, Schiff, Auto oder per pedes. Als Kurort war Woltersdorf ebenso bekannt wie als Wohnort von Künstlern. Hier herrschte ein freies, kulturfreundliches und unverkrampftes Klima, das dem Thema Film zugute kam. So war Großes für Woltersdorf geplant. Der Gemeinde wurde die Karriere eines Filmparadieses vorausgesagt mit Kinos, einem Filmarchiv und einer Wohnsiedlung für alle diejenigen, die mit diesem Medium zu tun hatten.

Die Pläne des aus einer wohlhabenden Wiener Familie stammenden May, mit bürgerlichem Namen Julius Otto Mandl, fielen auf fruchtbaren Boden. Bevor er Woltersdorf ins Visier nahm, hatte er hatte ein landwirtschaftliches Studium absolviert und etliche wenig erfolgreiche Händlerjobs hinter sich. Seine eigentliche Berufung waren das Theater und der Film, und so verdingte sich May 1912 bei der Berliner Continental-Filmkunst-GmbH als Regisseur und war mit Detektiv-Streifen und Liebesfilmen erfolgreich. Für seine im Ersten Weltkrieg gegründete Firma, die May-Film-Gesellschaft, war er als Autor, Regisseur und Produzent mit ähnlichen Sujets tätig. Während auf den europäischen Schlachtfeldern noch gestorben wurde, drehte May den Monumentalfilm "Veritas vincit - Die Wahrheit siegt", mit dem er auch im Ausland Aufsehen erregte. Der Durchbruch gelang erst in der jungen Weimarer Republik mit aufwändig inszenierten Abenteuerfilmen und Melodramen, in denen Mays Frau Mia häufig die weibliche Hauptrolle spielte und die in Woltersdorf entstanden.

Herrin der Welt und indisches Grabmal

Joe May stampfte nach Kriegsende zwischen Woltersdorf und Rüdersdorf eine Film- und Kulissenstadt aus dem Boden, deren Größe der Woltersdorfer Filmhistoriker und Filmarchäologe Gerald Ramm in seinem Buch "Das märkische Grabmal" (1997) mit knapp 183 000 Quadratmeter angibt. Unter den mehr als 50 Spielfilmen, die Joe May produzierte, ragen das aus acht Episoden bestehende, unter schwierigen Bedingungen gedrehte Epos "Die Herrin der Welt" (1919), sowie "Das Indische Grabmal" und "Der Tiger von Eschnapur" (beide 1921) hervor. Außenaufnahmen wurden Woltersdorf und die Innenaufnahmen in Ateliers gedreht, die May im Berliner Ortsteil Weißensee unterhielt.

Das Echo auf diese Filme war beträchtlich. Zu dem Streifen "Herrin der Welt", in dem die schöne Maud auf der Suche nach einem Schatz durch die Kontinente reist und dabei nicht glücklich wird, heißt es in einer Kritik der Zeitschrift "Der Film", die Fülle der Phantasie sei bewundernswert, der Regisseur sei "ganz Tat gewordene Schöpfungskraft, großartig, ohne Aufdringlichkeit, kinogemäß, ohne Geschmacklosigkeit (wenn auch bis an die Grenzen gehend), sowohl Beherrscher der Massen als auch Beobachter der einzelnen (wenn auch das erstere mehr)." Mays Interesse gelte dem Bild und dem Spiel, das Sujet reize zu Außergewöhnlichem, er verstehe das Außergewöhnliche zu finden.

Für "Das Indische Grabmal" entstand ein von zwei pyramidenförmigen Türmen eingerahmtes Eingangstor, vor dem ein Heer von Komparsen agierte. Zur Ausstattung gehörten unter anderem eine riesige Buddhafigur, Wasserbecken, ein Kerkerturm, ein Tigerkäfig, aber auch Hütten der "Eingeborenen". Angesichts dieser sorgfältig originalen Vorlagen nachempfundenen Kulissenarchitektur zeigte sich die Presse beeindruckt. Das Schloss von Eschnapur mit seinen gewaltigen Türmen, verschwiegenen Gärten und zauberischen Hallen sei ein Kunstwerk, "das wohl das beste darstellt, was im märkischen Sand gebaut ist", meinte ein Berichterstatter in der "Deutschen Lichtspielzeitung". Andere Kritiker bemängelten, dass das Grabmal erst am Schluss und leider nur für wenige Augenblicke sichtbar wird. "Viel mühevolle Arbeit ist hier für die vergänglichste aller Künste verschwendet worden", schrieb die "Deutsche Lichtspielzeitung". Nicht der Kritiker soll beeindruckt werden, "sondern die Waschfrau aus Kyritz und der Barbier aus New York", heißt es im "Berliner Lokalanzeiger". Besser noch wäre es gewesen, wenn man im wirklichen Indien hätte drehen können. "Aber leider ist eine Indienreise noch kostspieliger, als es die prachtvollen Bauten im märkischen Sande sein können. So freue man sich an dem Herrlichen, was Martin Jacoby-Boy in Woltersdorf geschaffen hat", merkt das "8-Uhr-Abendblatt".

Ferne Länder nicht erreichbar

Dass Joe May seine in entlegenen Weltengegenden handelnden Filme nicht an Originalschauplätzen drehte, hatte mehrere Ursachen. Das Deutsche Reich hatte den Ersten Weltkrieg verloren, die Bedingungen des 1919 abgeschlossenen Versailler Friedensvertrags machten es seinen Filmemachern unmöglich, in britischen und französischen Kolonien zu drehen. Außerdem waren solche Expeditionen teuer, aufwändig und wegen der langen Reisezeiten auch sehr langwierig. So musste man sich mit Nachbauten behelfen, und das Publikum war begeistert.

Der Abenteuerfilm "Das Indische Grabmal" nach einem Roman von Thea von Harbou wurde ein Welterfolg. Für seine Beliebtheit spricht, dass das Thema später aufgegriffen und variiert wurde. Anfang 1938 kam ein im indischen Udaipur und Mysore sowie in Rüdersdorf gedrehtes Tonfilm-Remake in der Regie von Richard Eichberg heraus, 1952 drehte dieser noch einmal den "Tiger" und das "Grabmal" an authentischen Schauplätzen in Udaipur. 1959 gab Fritz Lang dem "Grabmal" im indischen Rajasthan und in den Westberliner CCC-Studios Filmgestalt, doch kam dieser Streifen bei der Kritik und im Publikum nicht gut an, vergleichen mit der begeisterten Resonanz aus den frühen zwanziger Jahren. Da Joe May als Produzent für seine teuren Großfilme nicht die notwendigen Millionen zur Verfügung hatte, schloss er eine Kooperationsvereinbarung mit der 1917 von dem Medienzaren Alfred Hugenberg gegründeten Universal Film AG ab. Die Ufa finanzierte den Zyklus "Die Herrin der Welt" mit der ungeheuren Summe von 5,9 Millionen Goldmark und erzielte allein 1922, als die Inflation schon großen Schaden anrichtete, mehr als 22 Millionen Goldmark Gewinn. May muss für die Ufa ein kein leichter Partner gewesen sein, er geriet mit ihr in Streit und verschuldete sich bei ihr, ging zur Konkurrenz und hatte auch dort krisen- und inflationsbedingt wenig Glück. Ähnlich erging es anderen Filmfirmen und -produzenten, die Inflation, die im November 1923 ihren Höhepunkt erreichte, fraß Kapitalien, Rücklagen und Gewinne auf. Hinzu kam, dass May wohl schlecht mit Geld umgehen konnte. Sparsam mit den Ressourcen hauszuhalten, als es ihm und seiner Firma noch gut ging, war ihm fremd, weshalb finanzielle Probleme nicht ausblieben.

Katastrophal für Mia und Joe May war 1924 der Selbstmord ihrer Tochter Eva, die in etlichen Produktionen ihres übermächtigen Vaters mitgewirkt hatte und wohl an Differenzen mit diesem scheiterte. May, der als Filmproduzent so großartig gestartet war, konnte nicht verhindern, dass seine Firma in die Insolvenz schlitterte. 1925 verpachtet er seine Ateliers an die Ufa, bald darauf trennte er sich von seinen Studios in Weißensee und von der Filmstadt Woltersdorf. Trotz dieser Rückschläge blieb er dem Film weiterhin verbunden, wenn auch ohne eigene Produktionsfirma. So inszenierte er für die Ufa die Streifen "Heimkehr" (1928) und "Asphalt" (1928/29). In dieser Zeit vollzog sich der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm. Filmhistoriker bescheinigen May, diesen Wandel ohne größere Probleme geschafft zu haben.

Großzügigkeit und Gründlichkeit

Zu seinen Glanzzeiten war Joe May ein bekannter Mann, die Orts- und überregionale Presse berichtete gern über seine Arbeit und sein Leben als Grandseigneur. Der Hunger des Publikums nach Sensationen und Skandalgeschichten war groß, natürlich auch nach Informationen über die üppige Lebensweise der prominenten Akteure. Doch die Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg waren schlecht, Deutschland litt unter den Bedingungen des Versailler Friedensvertrag, im Inneren herrschte eine explosive Stimmung, rechte und linke Kräfte bekämpften sich bis aufs Messer, die gute alte Goldmark erlebte einen rasanten Wertverfall. May ließ sich von widrigen Umständen nicht beirren, nach seinen eigenen Worten verband er in Woltersdorf amerikanische Großzügigkeit mit deutscher Gründlichkeit. Das Beste war für die Ausstattung seiner Monumentalfilme gerade gut genug, und je exotischer die Spielorte, je aufregender die Handlungen, je attraktiver die Akteure, um so besser. Mays Architekt Martin Jacoby-Boy legte großen Wert darauf, dass bei den in märkischem Sand errichteten Tempel- und Palastbauten jedes Detail stimmte. Kein Geringerer als Kurt Tucholsky registrierte im Dezember 1919 in der "Weltbühne" die Verwandlung der Dorfidylle am Kalksee in eine Filmstadt mit diesen hintersinnigen Zeilen: "Das Kino schläft. Lasst mich verweilen bei diesen Sternen, filmomorph. Es schläft in sieben Teilen der Herr der Welt in Woltersdorf."

Für die Wertschätzung von Woltersdorf als Kulisse für spektakuläre "Naturfilme" spricht, dass der bekannte Afrikaforscher Hans Schomburg dort für ein nachgebautes Afrikadorf Kulissenelemente von May bekam, um realitätsnah drehen zu können, ohne sich auf eine teure Reise begeben zu müssen. Echte oder nur angemalte "Neger" verdienten sich als Statisten ein wenig Geld. May setzte große Komparsenmassen authentischer oder nachgemachter Afrikaner und Asiaten für seine Sensationsfilme in Bewegung. Es wird erzählt, dass manche Woltersdorfer zu den so genannten Filmbörsen-Negern, also den in ganz Deutschland herbei getrommelten Schwarzen, ein freundschaftliches Verhältnis entwickelten. Bisher kannte man die Afrikaner nur von der Sarotti-Werbung oder aus dem Zirkus, jetzt waren sie in natura da, und das löste manche Be- und Verwunderung aus. Während Woltersdorf nach dem Zusammenbruch des May'schen Filmimperiums wieder in den Dornröschenschlaf versank und nur gelegentlich von Filmleuten heimgesucht wurde, schaute sich der Produzent nach einer neuen Aufgabe um.

Joe May geht nach Hollywood

In Deutschland wurde es für den ehemals Gefeierten zunehmend ungemütlich, die Konkurrenz unter den Filmemachern war groß und gnadenlos, waghalsige Actionfilme, auf die sich Joe May und sein auf solche Sensationen getrimmter Star Harri Piel so gut verstanden, hatten es schwer, sich gegen die Angebote der Ufa mit ihren Schlager-, Liebes- und Historienfilmen zu behaupten. Nach Hitlers "Machtergreifung" am 30. Januar 1933 hatte der Jude Joe May keine Perspektive mehr. Nach seinem Weggang aus Deutschland kam er über Paris und London nach Hollywood. Dort gelang ihm ein mäßiges Comeback, denn im sonnigen Kalifornien war er einer von vielen. Als er 1954 in der kalifornischen Filmmetropole starb, hat man ihm im fernen Woltersdorf keine Kränze gewunden. Eine kurze Straße wurde nach vielen Jahren nach ihm benannt.

Schaut man in die Literatur über frühe deutsche Filmgeschichte, findet man nur in Ausnahmefällen Hinweise auf Woltersdorf als Filmstandort, und auch die Namen Joe May, Mia May und anderer Leute vom Film kommen selten vor. Dass die Filmstadt Woltersdorf in Vergessenheit geriet, sei nicht ihrer Unbedeutsamkeit geschuldet, sondern den Zuständen der folgenden politischen Systeme, schreibt Gerald Ramm in seiner Würdigung der kinematropgrapischen Vergangenheit von Woltersdorf. Aus rassistischen Gründen war nach 1933 der einstmals so gefeierte Prinzipal, dessen May-Film AG nur eine kurze, aber intensive Blüte vergönnt war, eine Unperson. May-Filme wurden unter Hitler und Goebbels öffentlich nicht mehr gezeigt. Über die in den märkischen Sand gesetzten indischen Tempel und Paläste wuchs Gras, sofern sie nicht schon abgeräumt waren. Von den großartigen, bis ins letzte Detail durchgestylten Woltersdorfer Filmbauten aus Gips, Holz und Drahtgeflecht ist bis auf wenige Reste alles vergangen, da und dort findet man beim Umgraben im Garten noch kleine Brocken als letzten Gruß. Gerald Ramm, im Hauptberuf Bestatter, hat sich schon vor Jahren auf die Spurensuche gemacht und an versteckten Stellen Reste jener Filmbauten entdeckt. In manchem Betonfundament sollen Stücke der alten Kulissenwelt stecken, und der eine oder andere Woltersdorfer dürfte in seinem Garten Schnörkel aus Gips gefunden haben, ohne ihre Herkunft zu kennen.

28. Januar 2019

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